Wie leicht darf‘s denn sein?
Übergewicht ist in der Reiterwelt ein Dauerstreitthema, das oft mit Vorwürfen und Scham verbunden ist. In dieser Debatte werden Menschen leicht übersehen, die sich um die Grenzen des Reitsports bewusst sind und kreative Alternativen für sich und ihr Pferd gefunden haben. Sie sind ein Vorbild für ein respektvolles Miteinander zwischen Pferd und Mensch und vor allem zwischen Pferdemenschen. ekor wollte mehr wissen und hat
mit diesen Pferdefreunden gesprochen.
Autorin: Kim Henneking
Berit Seiboth hat mit ihrem Pony Raija das Kutschefahren entdeckt.
Foto: privat
Ob Freizeit- oder Sportreiter, Spaziergänger oder Bodenarbeitsfan, Kutschfahrer oder Holzrücker – Pferdemenschen haben eins miteinander gemein: alle lieben ihre Pferde! Diese Leidenschaft ist natürlich unabhängig von der Größe, vom Aussehen und auch vom Körpergewicht des Menschen. Doch das Gewicht von Reitern ist oft Anlass für hitzige Diskussionen.
Die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN), der Verein Deutscher Freizeitreiter (VFD) und die Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz (TVT) sprechen sich für eine maximale Belastung des Pferderückens mit 20 Prozent des Pferdeidealgewichts aus – das bezieht sich auf das Reitergewicht inklusive Kleidung und Sattel. Die tatsächliche Tragkraft eines Pferdes sei immer individuell vom Exterieur, Gesundheits- und Trainingszustand des Pferdes, dem Reitvermögen des Menschen und der Ausrüstung abhängig.
Was heißt das nun für Menschen, die diese 20-Prozent-Regel nicht einhalten können? Um diese Frage zu beantworten, haben sich rund 1400 Pferdefreunde auf facebook unter dem Namen „Schwere Reiter mit Herz“ zusammengeschlossen. Gegründet wurde die Gruppe im Jahr 2013 von der Pferdebesitzerin Patricia Liedel-MacIntyre. „Es wäre schön, mal als Mensch gesehen zu werden, der sehr wohl weiß, dass ein Pferd kein Motorrad ist“, sagt die 63-Jährige. Viele Gruppenmitglieder seien aufgrund von Krankheiten, Depression, Missbrauch und ähnlichem übergewichtig geworden. In dieser Lebensphase suchen sie gemeinsam nach einem respektvollen Umgang mit ihren Pferden und unter Reitern.
Patricia Liedel-MacIntyre selbst ist nach einem Unfall und weiteren schweren Schicksalsschlägen in eine Essspirale gerutscht, wie sie berichtet. Danach habe sie 218 Kilogramm gewogen. Heute sei sie bei 110 Kilogramm angekommen. 100 Kilogramm Reitergewicht inklusive Ausrüstung ist ihr Ziel, bevor sie sich wieder aufs Pferd schwingen will. Bis dahin macht sie mit ihren zwei Norikern Bodenarbeit und ist gemeinsam mit ihnen sportlich aktiv – mit regelmäßigen Spaziergängen und im Wanderurlaub.
„Nur weil ich nicht mehr wie ein Pferdemädchen aussehe, werde ich trotzdem immer eins sein.“
Gemeinsame Zeit vom Boden aus gestalten
Zur Gruppe gehört auch die 53-jährige Martina Skups aus NRW. Pferde und Reiten gehören zu ihrem Leben, seitdem sie 12 Jahre alt ist, erzählt sie. Mit aktuell 95 Kilogramm wolle sie nicht mehr so reiten wie früher. Doch die Liebe zum Pferd ist geblieben und Martina Skups hat andere Wege gefunden, Zeit mit ihren drei Pferden zu verbringen. „Nur wenn es meinen Pferden gut geht, geht es mir auch gut“, sagt sie. Bis sie ihr Wunschgewicht wieder erreicht hat, mache sie deshalb überwiegend Bodenarbeit, gehe spazieren und setze sich für kurze Ausritte überwiegend im Schritt auf ihr Pferd. Als stolze Mutter habe sie auch gern beobachtet, wie ihre Tochter mit den Pferden zusammenwuchs und Reiten lernte.
„Klar wird im Stall über uns Dicke gelästert. Aber worüber lästern Reiter nicht“, sagt Skups. Sie frage ihren Trainer, Physiotherapeuten und Tierarzt um Rat und versuche, „Besserwisser zu überhören“. In der facebook-Gruppe bekomme sie das Gefühl, mit ihren Sorgen nicht allein zu sein, könne Bilder posten, ohne auf die Perspektive achten zu müssen und könne zeigen, wie viel Spaß sie mit ihren Pferden hat. „Nur weil ich nicht mehr wie ein Pferdemädchen aussehe, werde ich trotzdem immer eins sein“, sagt Skups.
Pferdemädchen, aber keine Reiterin mehr – das ist auch Berit Seiboth aus Hamburg. Sie teilt auf Instagram ihr Leben mit ihrem Showpony Raija und thematisiert dort offen ihr Übergewicht. „Ich habe Pferde schon seit meiner Kindheit geliebt“, sagt die 51-Jährige. Aufgrund zweier chronischer Krankheiten und den dafür nötigen Medikamenten habe sie innerhalb kurzer Zeit stark zugenommen und sich entschlossen, nicht mehr zu reiten. Aktuell wiege sie 104 Kilogramm, reiten wolle sie erst wieder ab 80 Kilogramm und weniger.
„Ich möchte trotzdem etwas mit Pferden zu tun haben. So bin ich zu Ponys und Kutschfahrten gekommen“, erzählt sie. Ihr Pflegepony Raija habe sie selbst ausgebildet und gemeinsam mit ihr die Zirsensik entdeckt. Sitzen, Steigen, Apportieren, Glocke läuten, Malen – mit diesen Tricks treten die beiden in Shows auf und begeistern die Zuschauer. „Wenn ich mit Raija zusammen bin, gibt es nur uns beide“, sagt Berit Seiboth. Scham oder Unsicherheit wegen ihres Übergewichts fühle sie in Begleitung ihres Ponys nicht.
„Ich wünsche mir mehr Toleranz“, sagt sie mit Blick auf die Reiterwelt. Schwere Reiter würden insbesondere in den Sozialen Medien schnell angegriffen, ohne dass die Hintergründe zum Gewicht oder zu den Aktivitäten mit dem Pferd bekannt seien. Kritik könne man auch in privaten Nachrichten und mit netten Worten formulieren. Außerdem vermisse sie in Reitsportgeschäften Kleidung zum Fahren und für die Bodenarbeit in größeren Größen, denn nicht alle Pferdemenschen bräuchten Reitkleidung.
Spazieren gehen ist für Mensch und Pferd eine sportliche Alternative zum Reiten.
Foto: privat
„Reitern fällt oft nichts anderes ein, als sich auf das Pferd zu setzen oder zu longieren“, sagt Berit Seiboth. „Dabei gibt es so viele Alternativen zum Reiten: Kutsche fahren, Bodenarbeit, Wandern gehen.“ Ihre kreativen Ideen hat sie bereits in mehreren Online-Challenges geteilt. Dort konnten die Teilnehmer ihr Pferd bei wöchentlichen Aufgaben auf neue Art kennenlernen. „Ich will näherbringen, was ich mit Raija erlebe“, sagt Berit Seiboth. Denn von Pferden könnten Menschen viel lernen: Kooperation, Geduld und Empathie.
Mehr Infos unter pony-raija.de
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