Darf ich bitten?

1. September, 2023 | Ausgabe II/2023, Der Mensch., Der Mensch. [II/2023]

Thomas Günther ist Sportwissenschaftler & Pferdetrainer mit künstlerischen, nach eigenen Aussagen „leicht chaotischen Zügen“. Vor allem beeindruckt er mit seiner authentischen und durchweg positiven Grundeinstellung in der Arbeit mit Zwei- und Vierbeinern nach seinem pro ride Horsemanship-Konzept. Warum Leichtigkeit und die eigene innere Haltung bei dieser Arbeit immens wichtig sind, hat er ekor erzählt.

Autorin: Ines Vollmer

 

Ein vertrauensvolles Führungsverhältnis sorgt für Sicherheit bei den Pferden. So wird das Liegen für das Fluchttier Pferd auf Bitten des Menschen selbstverständlich.
Foto: Anna Luong Van

Wer das Privileg genießen kann Pferde in sozialisierter Herdenhaltung oder sogar in freier Wildbahn zu sehen, kann die Kür aus Annäherung und Rückzug miterleben. Je nach Rangordnung in der Herde übt zum Beispiel das Leittier gezielt Bewegungskontrolle durch die eigene Körpersprache aus. Genauso ist es bei der Kommunikation von uns Menschen mit den Pferden, die immer auch eine Grenze setzt und etwas auslösen will. Dies reicht vom simplen Alltagshandling bis zu hohen Lektionen im Reiten. „Man muss edel umgehen mit dem Anspruch, dass Pferde dem Druck weichen. Pferde müssen lernen, dass sie ihre Schutzreflexe nicht gegen uns einsetzen müssen. Wenn sie das verstanden haben, kann man mit ihnen über alles reden. Gegendruck ist ein normales Verhalten, mit dem sich Pferde schützen. Das Nachgeben in der Arbeit mit Pferden kann man vergleichen mit einem Tanz. Einer muss führen, damit es gut wird, und der andere nimmt die Führung an. Im positiven Sinne gibt er sogar die Führung ab“, erklärt Thomas Günther, Trainer und Gründer von pro ride Horsemanship.

Mit seinem Konzept für die Ausbildung und das Training von Pferden, das auf Bodenarbeit und der sogenannten liberty work basiert, arbeitet er selbst seit vielen Jahren erfolgreich und bildet neben Pferden auch regelmäßig interessierte Menschen zu Trainern, die nach seinem pro ride Horsemanship-Konzept arbeiten, aus. Dabei beruhen die Grundsteine auf dem natürlichen Verhalten der Pferde untereinander. Denn alles, was Pferde denken, zeigen sie durch Körperbewegungen.
Wer Thomas Günther und seine Lebensgefährtin und Pferdetrainerin Silvia Wölk schon auf Messen oder
Live-Trainings erlebt hat, sieht vielleicht gerade eines der prägenden Bilder ihrer Arbeit vor Augen: Das Pferd steht ohne jegliche Ausrüstungsgegenstände in der Reitbahn und der Stick, ähnlich einer Longierpeitsche, zischt in großen Kreisen durch die Luft neben dem Pferdekörper und kreist und kreist und kreist. Das Pferd steht. Wartet ab. Bewegt sich nicht.

 

 

Wie ist das möglich?

Die Grundpfeiler des Konzeptes sind Desensibilisierung und Sensibilisierung. Das heißt, das Pferd zu schulen, auf was es reagieren soll, also eine größtmögliche Sensibilisierung in der gegenseitigen Kommunikation. „Alles beruht im ersten Schritt auf Verständnis, denn Fluchttiere sind überfordert mit Situationen, die sie nicht verstehen. Darauf folgt der Beziehungsaufbau auf einer erkennbaren Beziehungsebene, wobei Respekt und Vertrauen natürlich eine Rolle spielen. Horsemanship beschäftigt sich viel mit einem hohen Vertrauens- und Respektanteil, diesen darf man nicht vernachlässigen. Bei dem Beispiel mit dem zischenden Stick muss das Pferd ein Verständnis für den Unterschied zwischen Desensibilisierung und Sensibilisierung entwickeln. Der Stick kann einmal eine Bewegung fördern wollen, aber gleichzeitig auch einfach gar nichts auslösen müssen. Heißt, das Pferd soll auch stehen bleiben können, ohne dass ein Reiz ausgelöst wird“, erklärt Thomas Günther, der selbst in der Westernreiterei zuhause ist.

„Die Ausbildung eines Pferdes ist in meinen Augen gelungen, wenn die Mitarbeit in jeder Form von Energielevel funktioniert. Heißt, ich kann ganz ruhige Dinge tun und erhalte meinem Energielevel der Anfrage entsprechend eine Antwort von dem Pferd. Ich kann aber auch voller Power schnelle Übungen abfragen und das Tier reagiert ebenso energiegeladen, lässt sich aber im nächsten Moment wieder ruhig abstellen. Das hat viel mit liberty work, körperlicher Energie und Präsenz zu tun. Man schließt bildlich gesprochen mit dem Körper Räume, kann sie aber ebenso wieder freigeben.
Das Ziel ist, dass sich die Pferde genauso gut wieder ranholen wie wegschicken lassen. Das ist allerdings aufgrund der natürlichen Disbalance des Fluchttieres mit Tendenz zum Weglaufen schwierig. Heißt, die Grundidee von Annäherung und Rückzug soll dazu führen, das Pferd reagieren und selbst entscheiden zu lassen, ob es zu uns kommt.“

Ein Beispiel für diese Körpersprache ist die Hinterhand weichen zu lassen. „Dazu trete ich raumeinwirkend schräg von der Seite Richtung Hinterhand an mein Pferd. Immer mit dem Zielbild vor Augen, dass die Hinterhand weicht. Ich gebe meinen Schülern oft das Bild von etwas mit dem Körper wegdrücken wollen mit, damit sie dieses Bild in ihre Körperenergie aufnehmen. Der Effekt sollte dann sein: Ich bin mit dieser Energie in den Raum des Pferdes getreten und es reagiert ausweichend. Aber ohne es zu berühren. Das ist die Kunst der Freiarbeit.“

Das freie Zirkeln, eine Paradedisziplin von Thomas mit seinen Pferden.
Foto: Anna Luong Van

Dabei kommt es neben der oft zitierten Emotionskontrolle seitens der Menschen auch auf die zielgenaue Körpersprache an. Unterschieden wird, laut Günther, die neutrale Körpersprache: „Alles, was ich jetzt tue, soll dich und dein Handeln nicht beeinflussen. Ich will nichts verändern. Der Mensch dringt nicht in den Raum des Pferdes ein. Die fokussierte Körpersprache: Ich berühre den Raum des Pferdes, durch z. B. präsentere Körpersprache und baue Spannung mit einer zielgerichteten Einwirkung auf. Zum Beispiel mich dem Pferd zuzuwenden, um die Hinterhand zu bewegen. Diese Art von Körpersprache wird auch die drückende Körpersprache genannt.“ Dabei reiche es zielgenau und fokussiert zu sein, um die hochsensiblen Tiere zu erreichen. Das Pendant hierzu ist die ranziehende Körpersprache z. B. anhand eines imaginären Seils. „Das Spannende ist, dass Menschen erstmal keine Bewegungsabläufe mit den Pferden üben, sondern die Zuordnung zu einem Gefühl und einem Energielevel. Die Bewegungen bringen die Pferde von Haus aus mit“, erklärt Thomas Günther. Trotzdem müsse man für das Reiten zum Beispiel bei jungen Pferden dann auch noch die Berührungshilfen trainieren und die Zäumungsarbeit vom Boden üben. Ein klassisches Training hierfür ist die Doppellongenarbeit.

„Es geht tatsächlich zunächst um eine mentale Versammlung. Das ist mir zu Beginn wichtiger als der biomechanische Aspekt. Wenn ich merke, dass mein Pferd bereit ist sich in jede Richtung bewegen zu lassen, ist es im höchsten Grad versammelt. Heißt, nicht das vorherrschende Haltungsbild ist ausschlaggebend, sondern die mentale Einstellung. Vergleichbar mit einem Torwart, der jederzeit gleich gut in beide Richtungen springen kann. Mein Pferd kann also zu jedem Zeitpunkt in jede Richtung gleich gut reagieren! Dann ist es für mich hoch versammelt. Mit der Aufrichtung möchte ich gerne in der Arbeit spielen können und betrachte sie nicht als dringend notwendig für diese Art von Versammlung. Für mich ist wichtig die Balance der Dinge herzustellen. Also etwas bewusst verändern oder steuern innerhalb der Arbeit mit den Pferden. Wenn Pferde nur etwas abspulen sollen, was sie nicht verstehen, wird es ungesund. Horsemanship befasst sich mit dem Beziehungsaspekt, was insbesondere heißt zusammen zu kommunizieren. Kommunizieren können und dürfen! Verständnis füreinander fördern und für das, was man wann und wie möchte“, erklärt der Trainer.

Dabei sind die Ansätze bei pro ride Horsemanship allgemeingültig, reitweisenunabhängig und ganzheitlich zu verstehen und auch umzusetzen. „Grundsätzlich ist die Sprache doch immer die gleiche. Sitz, Schenkel, Hand, Stimme in verschiedenen Möglichkeiten. Es sprechen alle deutsch, aber der eine hat z. B. einen bayrischen Slang“, erklärt Thomas Günther lachend. „Bei uns gibt es nicht man reitet so oder so rückwärts. Wir gehen auf die Logik über Kommunikation und Abstimmung ein. Es geht um das Bewusstsein. Hilfe zur Selbsthilfe und eigene Wege finden.“ Ansatz des Konzeptes sei es auch, dass jedes Mensch-Pferd-Paar mutmaßlich die gleichen Baustellen und Themen hat. Natürlich erreiche der eine manchmal ein höheres Level bei bestimmten Übungen als der andere. Aber beispielsweise mache doch jeder hin und wieder Sitzschule. Der eine eben auf einem höheren Niveau als der andere, aber es gehe grundsätzlich immer um Sitzbalance.

Den Trainern bei pro ride ist es wichtig, dass jeder Typ Mensch und jeder Typ Pferd willkommen ist. „Wir versuchen auch immer das Mindset der Gruppe zum Beispiel bei unserem Studentenprogramm zu berücksichtigen. Dabei besprechen wir was bedeutet Respekt, was heißt Vertrauen und was darf ich überhaupt von meinem Pferd erwarten? Daneben ist Struktur tatsächlich ein Argument für viele Teilnehmende, warum sie sich für unsere Art und Weise mit den Pferden zu arbeiten entscheiden. Natürlich hat es auch viel mit Gefühl
zu tun, aber manchmal wird dieser Ansatz für einige zu schwammig. Unser Konzept umfasst daher zum Beispiel in der Freiarbeit acht klare Übungen, um zu lernen. Danach verinnerlicht man welche Prinzipien und Bausteine dahinterstehen. So werden die Teilnehmenden auch mehr und mehr in ihrer Arbeit mit dem Pferd freier, merken aber, der erste Schritt passt trotzdem immer auch zum letzten“, beschreibt der Sportwissenschaftler den strukturierten Aufbau seines Konzeptes.

Mittlerweile hat sich das Ausbildungs- und Trainerprogramm von pro ride Horsemanship vielerorts etabliert. Auch auf dem Hof von Thomas Günther gehören mehrere Trainer zum festen Ausbildungsstamm.
Foto: Anna Luong Van

Die Freiarbeit steht immer ganz am Anfang der Arbeit, weil Pferde räumlich denken und sich körperlich ausdrücken und verhalten. Das ist ihre Sprache. „Körperlichkeit und Druck sind oft sehr negativ belegt. Druck wird oft falsch verstanden. Das hat viel mit den eigenen Bildern im Kopf zu tun, die man hierzu hat. Ich benutze den Begriff aber auch für das metaphorische Bild: man drückt irgendwo gegen, um etwas zu bewegen. Also als räumliches Bild, das man sich gut vorstellen kann, wie zum Beispiel einen Schrank wegdrücken. Druck ist dabei also auch eine Form der körperlichen Energie. Das hat bei manchen einen esoterischen Beigeschmack, ist aber gar nicht so gemeint“, erklärt der Horseman. „Wir versuchen dafür zu sensibilisieren, wie man welche Energie ausstrahlt. Druck ist ein starkes Wort. Unser Ziel ist gar nicht mit wenig Druck zu arbeiten. Mit wenig Druck zu kommunizieren schon, aber nicht mit wenig Druck auszubilden. Der Druck soll kommunikativ gemacht und genutzt werden. Druck ist Kommunikation, wie es bei Pferden untereinander auch ist. Das heißt nicht, dass man grob werden muss, sondern dass man feiner fragen kann.“

Ein weiteres Beispiel für die Arbeit mit dem pro ride Horsemanship-Konzept sind die unterschiedlichen Qualitäten an Einwirkungen. „Wenn ein Pferd die Übungen verstanden hat und sie auf unterschiedlichen Energielevel ausführen kann, geht für uns die Ausbildung erst richtig los. Jetzt weiß das Pferd, was ich will, und das kann ich auch mit so wenig wie möglich erreichen. In unserem Qualitätskonzept ist die erste Stufe Leichtigkeit und Verständnis. Bewusst nicht die letzte, da ich beides als Basis benötige, um mir beispielsweise zu erlauben beim Partner Pferd auch wiederholt nachfragen zu dürfen“, erklärt Thomas Günther. Die fünf Stufen sind: Leichtigkeit und Verständnis, Wiederholbarkeit schaffen und festigen, das Bleiben in einer Lektion, die Verstärkung üben, damit die Übung schließlich mit anderen Lektionen kombinierbar ist und eine Art Abrufbarkeit bekommt, als auch eine Selbstverständlichkeit. „Dabei ist es wichtig, dass dieses Zielbild in jeder Situation umsetzbar ist. Ob ich reite, vom Boden oder an der Zügel­arbeit arbeite – es muss klar sein, wie und wann man den Druck bewusst steigern darf. Dafür muss man sich selbst sehr im Griff haben! Wir versuchen alle negativen Bilder zu löschen. Also denk dir bei Druck nicht, du musst jetzt mal sauer werden, sondern schaff dir neue innere Bilder. Bei Eltern funktioniert das Bild ihres Kindes beim Fußballspiel gut. Du feuerst dein Kind an. Mit ganz lauter Stimme schreist du ihm zu: Ja, du schaffst das Tor! Also mit einer positiven hohen Energie. Wenn man allerdings sagt: Wehe, du schießt das Tor nicht, komm du mir mal nach Hause!, ist es auch eine gleich hohe Energie, aber eben doch eine ganz andere. Das heißt die Höhe der Energie ist gar nicht das Problem, sondern die Aussage hinter dem Druck“, erklärt Thomas Günther das Umkehren von Emotionen, das auch mit der Pferdearbeit einhergehen sollte.

„Die innere Einstellung und das Miteinander sollten von Leichtigkeit geprägt sein. Das bedeutet für mich, dass man positiv bei der Arbeit bleibt, für alles keine hohen Einwirkungen nötig sind und man einfach ein gutes Zusammenspiel auf allen Ebenen hat. Viele haben das Verständnis von Leichtigkeit: dass wenn das Pferd etwas gelernt hat, es das von nun an immer zu 100 Prozent abrufen muss. Aber auch Pferde haben verschiedene Stimmungen. Das Fragendürfen und die Kommunikation soll für mich eine Leichtigkeit haben“, betont der Pferdetrainer.
„Dann gibt es für mich Leichtigkeit in der einzelnen Einwirkung. Sie definiert sich von der eigenen inneren Einstellung her, in sehr reduziertem Druck, dass man die Energie, die man braucht, einzig in das eigene Körperbild legt. Diese kann durchaus auch hoch sein. Ich kann dem Pferd auf diese Art und Weise sagen: Los, galoppiere jetzt und es hat dieselbe Power, wie wenn man die Peitsche als akustisches Signal knallen lassen würde. Viel Energie im körperlichen Sinne, aber ohne viele Hilfsmittel einsetzen zu müssen. Mit dem Ziel, ich will diese Leichtigkeit wieder herstellen, aber immer gekoppelt an eine positive Grundeinstellung bei mir als Mensch. Bei einem gut ausgebildeten Pferd sind also Zügeldruck und Schenkeldruck zu einem Gespräch geworden, Energie zu einem Kommunikationsmittel“, erklärt Thomas Günther seine Definition von Leichtigkeit. Ein leiser Tanz aus Frage und Antwort.