Einfach Pferd sein

1. März, 2024 | Ausgabe I/2024, Der Mensch., Der Mensch. [I/2024]

Pferde, die sich mit ihren Artgenossen rund um die Uhr bewegen und sich möglichst frei am Geschehen ihrer Umwelt beteiligen, sind ausgeglichen, zufrieden sowie jederzeit locker und geschmeidig. Eine entscheidende Voraussetzung für feines Reiten.

 

Autorin: Sandra Sehringer

Foto: Friederike Heidenhof

„Ich war selbst überrascht, wie gut die Pferde auf sich selbst aufpassen können und vor allem, wie positiv sie sich entwickeln.“

Entspannt und zufrieden grasen 40 Warmblüter gemeinsam, verteilt über etwa 20 Hektar große Wiesen, die das Klostergemäuer von Gut Rothenkircherhof umrahmen. Manchmal rennen die Pferde zwischendurch auch begeistert um das ganze Gelände am Koppelzaun entlang, dösen im Schatten oder gehen zum Trinken an den natürlichen Bach, der die Koppel durchquert. „Die vollständige Freiheit können wir unseren Pferden zwar nicht bieten“, sagt Uta Gräf, „aber uns ist es sehr wichtig, dem Ideal nahezukommen und sie einfach Pferd sein zu lassen.“
Kaum zu glauben, dass sich zahlreiche Grand-Prix- und S-Dressurpferde unter den Tieren befinden, die ohne jegliche Gamaschen oder Decken das ganze Jahr über gemeinsam ihre Freiheiten genießen. Denn auch im Winter gibt es einen großen Sandauslauf mit einem Hügel, der den Pferden einen guten Überblick über das Gelände ermöglicht. Unebene oder auch gefrorene Böden, Gras, Sand, Stock und Stein – all das hilft den Tieren, ihre Balance und ihre Trittsicherheit zu schulen, ihre Muskulatur, Sehnen sowie Bänder zu stärken und so Verletzungen vorzubeugen. „Die Art der Haltung habe ich vor etwa

30 Jahren durch meinen Mann kennengelernt“, erzählt Uta Gräf. „Und ich war selbst überrascht, wie gut die Pferde auf sich selbst aufpassen können und vor allem, wie positiv sie sich entwickeln.“ Pferde, die im Leistungssport gingen, wurden ja meist von Kopf bis Fuß eingepackt, durften nur unter Aufsicht freilaufen und hatten teilweise doch immer wieder Verletzungen oder wurden krank.

Viel Kontakt zu Artgenossen und Natur so weit das Auge reicht – so lässt es sich Pferd sein.
Foto: Friederike Heidenhof

Uta Gräfs Mann, Stefan Schneider, ist Tierarzt und kennt die positiven Auswirkungen der täglichen freien Bewegung auf die sogenannten Propriozeptoren. Die Rezeptoren sitzen in den Muskeln sowie den Gelenken und leiten ihre Informationen von dort ans Nervensystem weiter. Sie sorgen für die Tiefensensibilität der Pferde. Je besser sie trainiert sind, desto besser ist die Eigenwahrnehmung der Tiere, desto geschickter können sie mit ihrem Körper umgehen und desto geringer ist ihre generelle Verletzungsgefahr. Gleichzeitig profitiert ihr Immunsystem von einer pferdegerechten Herdenhaltung. Denn die tägliche Bewegung im Freien, das Tageslicht, aber auch das zufriedene Sozialleben der Tiere fördern die körpereigenen Abwehrzellen, verbessern die Sauerstoffversorgung und kurbeln den Hormonhaushalt an.

Vor allem wirkt sich das möglichst freie „Pferdsein“ auch auf die Psyche aus. „Denn als Herdentiere wollen Pferde ausreichend Bewegung und Sozialkontakte“, sagt Uta Gräf. „Erfüllen wir ihnen diese Grundbedürfnisse, sind sie im Umgang und auch bei der Arbeit viel ausgeglichener.“ Die Pferde seien auffallend motiviert, wach und fleißig. „Die Haltung nimmt uns einen großen Teil der Arbeit ab.“ Zum einen könnten selbst junge Pferde ihren Bewegungsdrang bereits auf den Koppeln ausleben, seien viele verschiedene Reize gewöhnt, zeigten sich weniger guckig und schreckhaft. Zum anderen bewegten sich auch ältere Tiere viel geschmeidiger, da Gelenke, Sehnen und Bänder über viele Stunden in Bewegung blieben. Selbst im Winter sei das 30-minütige Schrittgehen zum Aufwärmen vor der Arbeit daher nicht nötig.

Pferde, die auch im Winterhalbjahr rund um die Uhr in Bewegung und an der frischen Luft sind, bleiben beim Reiten ebenfalls ausgeglichen und zufrieden.
Foto: Friederike Heidenhof

„Erfüllen wir Pferden ihre Grundbedürfnisse, sind sie im Umgang und auch bei der Arbeit viel ausgeglichener.“

Doch werden Pferde, die tagsüber in einer Herde leben, nicht vielleicht auch zu selbstständig und freiheits­liebend, sodass wir im Umgang mit ihnen immer wieder diskutieren müssen? „Keineswegs“, lacht Uta Gräf. „Die Pferde sind es vielmehr gewohnt, sich sozial zu verhalten, auf andere zu hören und zu reagieren.“ Selbst ranghohe Pferde diskutierten nicht bei der Arbeit. Sie stünden generell unter weniger Stresshormonen, bauten Stress viel besser ab und gäben sich deutlich resilienter. Gleichzeitig erkennen sie den Menschen als Herdenführer an, dem sie vertrauen und den sie respektieren, sowohl vom Boden aus als auch unter dem Sattel. Sogar im Winter bei knackiger Kälte säßen sie so auf völlig entspannten Pferden, die nicht im Entferntesten „heiß“ oder „kernig“ seien. „Mir liegt es am Herzen, dass Reiten Spaß macht, und zwar nicht nur mir, sondern auch meinen Pferden“, sagt Uta Gräf. „Und Spaß macht Reiten für beide eben nur, wenn man die Pferde mit feinsten Hilfen dirigieren kann.“ Die feinstmögliche Kommunikation mit dem Pferd habe für sie oberste Priorität bei der Ausbildungs- und Trainingsarbeit.

Denn bei der Arbeit mit den eigenen und den ihr anvertrauten Pferden ginge es ihr nicht allein darum, dass sie körperlich reiften, sondern auch, dass sie ihre Persönlichkeiten entwickeln könnten. Das funktioniere jedoch nur, wenn man die körperlichen Voraussetzungen eines Pferdes, seinen Charakter und die aktuelle Befindlichkeit in der täglichen Arbeit immer wieder aufs Neue berücksichtige und es ansonsten in der Gesellschaft von Artgenossen einfach Pferd sein ließe.

Expertin

Seit Uta Gräf sieben Jahre alt war, sind ihre Begeisterung und ihre Leidenschaft für Pferde und das Dressurreiten ungebrochen. Mit 18 Jahren startete sie bereits in der Klasse S; später folgten die Ausbildung zur Pferdewirtin und die Meisterprüfung. Seit 1999 lebt Uta Gräf mit ihrem Mann Stefan Schneider auf Gut Rothenkircherhof in Kirchheimbolanden, wo sie Dressur­pferde aller Leistungsklassen bis Grand Prix trainiert und auf Turnieren erfolgreich vorstellt. Die natürliche Pferdehaltung und das feine harmo­nische Reiten liegen dem Paar ganz besonders am Herzen.
Foto: Friederike Heidenhof