Ein Zuhause in der Wildnis

1. September, 2022 | Ausgabe II/2022, Das Pferd., Das Pferd. [II/2022]

Ehemalige Olympiapferde, die mit langer Mähne die Wildnis durchstreifen: Das gibt’s? Ja – in der Thüringeti. Dieses einzigartige Projekt vereint moderne Pferdezucht und wildes Leben.

Autorin: Kristina Sehr

Leben wie in der Wildnis: Die Pferde sind unterteilt in verschiedene, kleinere Herden und wachsen in der Natur auf.
Foto: Thoms Lehmann

Es gibt Städte in Deutschland, die kleiner sind als die „Thüringeti“. Hinter dem abenteuerlichen Namen, der nicht zufällig an die ferne Savanne erinnert, verbirgt sich ein landwirtschaftliches Projekt im Herzen Thüringens. 500 Pferde, 500 Rinder und so manches weitere Tier lebt hier – und zwar auf 2500 Hektar. Wie Wildpferde wachsen die Pferde hier auf, leben in Herdenverbänden und durchstreifen die Natur. Mit diesem besonderen Konzept hat „Thüringeti“-Begründer Heinz Bley bereits über die Landesgrenzen hinweg für Aufsehen gesorgt. Doch das ist nicht alles: Die wilde Kinderstube, die die Pferde hier genießen, ist eng verwoben mit der Welt des Pferdesports.

Denn es sind nicht etwa rein zufällige Anpaarungen, die für die Fohlenjahrgänge in der Thüringeti verantwortlich sind. Ganzjährig leben die Stuten und Hengste unter freiem Himmel; in Kontakt mit Menschen kommen sie nur selten. Auf verschiedenen Arealen sind unterschiedliche Herden beheimatet. Und dabei zeigt sich, dass hier, inmitten der Wildnis, tatsächlich eine durchdachte Pferdezucht betrieben wird: Die wild lebenden Herden sind „nach dressur- und springtalentierten Pferden unterteilt“, berichtet Bley. „Jeder Herde übersteht ein Leithengst, der zugleich Vererber ist.“ Indem Bley jedes Jahr ausgeklügelt plant, welche Stute in welcher Herde leben wird – und welcher Hengst sie dementsprechend begleiten wird – kann er die Genetik des nächsten Fohlenjahrgangs bestimmen.

Um das 2500 Hektar große Areal zu erkundigen, ist das Auto eine gute Wahl. Als Belohnung für die weite Strecke warten unvergessliche Ausblicke.
Foto: Thoms Lehmann

Alle Warmblutpferde in der Thüringeti verfügen über eine vollständig ausgefüllte Abstammungstafel. Mittels Chip-Technologie und Gentests wird der Nachwuchs Jahr für Jahr registriert. So wird nichts dem Zufall überlassen. Und die Leithengste sind nicht etwa namenlose Wildpferde, ­
sondern ehemalige Spitzensportler oder Deckhengste der Landgestüte.

Wenn Heinz Bley über das Gelände fährt, um die Herden zu begutachten, fällt ein Hengst dabei besonders in Auge: ein rahmiger Brauner mit vier weißen Fesseln und einer milchweißen Blesse. „Farbenspiel“: So heißt der Hengst, der auch mit struppiger Mähne und Weidebauch nichts von seiner Imposanz verloren hat. Er war Prämienhengst; als Dressurpferd bis zur Klasse S siegreich und schließlich stationiert auf dem Landgestüt NRW. Durch eine Bekanntschaft Bleys zur Besitzerin des Hengstes und dank ein paar Umwegen bezog er schließlich sein neues Heim in der Wildnis Thüringens.

Hengst „Farbenspiel“ hatte einst eine Karriere als erfolgreiches Dressurpferd und deckte im Landgestüt. Heute lebt er ein „wildes Leben“ mit seiner Stutenherde.
Foto: Thoms Lehmann

Nur einige hundert Meter weiter wacht währenddessen „Forrest Gump“ über seine Herde. Auch er war früher im Dressurviereck zu Hause. Platzierungen bis zum internationalen Grand Prix Niveau zierten seine Karriere. Deckhengste aus dem Sport und „wildes Leben“ in der Thüringeti: ein Widerspruch? „Überhaupt nicht“, meint Heinz Bley. Die Hengste bleiben das ganze Jahr über draußen „bei ihren Damen“, berichtet er. Selbstverständlich müsse es auch charakterlich passen – „aber eigentlich bringen unsere Stuten jedem Hengst Manieren bei“, sagt er lachend.

Die Grundidee der Thüringeti sei einst ein klassisches Beweidungsprojekt gewesen. Oft werde so etwas mit Rindern umgesetzt. Doch dann kam die Idee, stattdessen Pferde in das Projekt zu integrieren. „Und weil ich schon immer auch Bezugspunkte zu Sportpferden hatte, lag es auf der Hand, dass wir in diese Richtung gehen würden“, erinnert sich der Pferdemann.

Forrest Gump sammelte noch vor einigen Jahren Erfolge bis zum internationalen Grand Prix. Doch jetzt sieht sein Alltag anders aus: Als „Herdenchef“ durchstreift er mit seinen Stuten die Thüringeti.
Foto: Thoms Lehmann

Rund 50 Stuten mit guten Dressur- und Springabstammungen bildeten vor über einem Jahrzehnt die Grundlage für die heutige „Thüringeti“ und ihre Pferde. Aber schon bald wusste man kaum noch, wohin mit der Nachzucht. Die Idee einer Auktion war geboren – und bleibt bis heute aktiv. Jedes Jahr am 3. Oktober lädt die „Thüringeti“ zur eigenen Versteigerung ein. Dann kommen etliche junge Pferde unter den Hammer – und finden ein neues Zuhause als Reitpferd. Freizeitorientierte Amateure zählen übrigens ebenso zu den Bietern wie Profis.

Für manches Sportpferd – man denke etwa an Farbenspiel und Forrest Gump – bedeutet die Thüringeti den wohlverdienten Ruhestand nach einer aufregenden Karriere.
Aber für ihre Nachkommen bietet das Projekt vielmehr die unbeschwerte Kinderstube, bevor schließlich der Um­zug zum neuen Besitzer (und damit oftmals in einen Pensionsstall) ansteht.

In diesem neuen Zuhause finden sich die ehemaligen Thüringeti-Jungspunde erfahrungsgemäß recht schnell ein, weiß Bley zu berichten. Und auch die „Auswilderung“ der Deckhengste gehe „meist sehr unspektakulär“ vonstatten. Ihr Leben lang standen sie in klassischen Ställen, deckten an der Hand – und plötzlich ruft das wilde Leben!

Morgendlicher Nebel im Tal: Das Areal ist an Idylle kaum zu überbieten.
Foto: Thoms Lehmann

Zu Beginn akklimatisieren sich neue Hengste darum immer erst mal in einer Großbox. Erst wenn sie hier zur Ruhe gefunden haben, kommen sie in ihre Herde. „Im ersten Jahr sind das oft die Freiberger-Stuten, die sind ruhiger und friedfertiger“, sagt Bley.

Und obwohl das Decken in der Herde phasenweise kräftezehrend für die Hengste sei, so sei doch auch feststellbar, wie gut ihnen die Haltung tue, erläutert er. „Farbenspiel steht zum Beispiel in einer super Kondition da. Und bei Forrest Gump sind zwar die Verschleißerscheinungen aus dem Sport zu sehen – aber ansonsten geht es ihm wunderbar.“

Nach einigen Jahren werden die Hengste ausgetauscht. „Frisches Blut“ für den Pferdebestand hält die Weiterentwicklung der Zucht am Leben. Doch das bedeutet nicht etwa das Ende des jeweiligen Hengstes. „Ich habe oft schon Anfragen von befreundeten Familien, die Interesse an einem der Hengste haben“, sagt er. Die besondere Idee der Haltung und auch der Pferdezucht, die er in der Thüringeti praktiziert, komme nun nämlich bei immer mehr Menschen gut an und finde Nachahmer.

„Das merken wir auch, wenn wir mal auf unsere jährliche Auktion schauen“, sagt Bley. „Da sind mittlerweile einige Profis dabei, die das Angebot interessant finden. Und auch immer mehr Freizeitreiter kommen ganz bewusst zu uns, weil sie ein Pferd kaufen wollen, das absolut artgerecht aufgewachsen ist.“ Das Projekt „Thüringeti“ zeige ihm vor allem, dass es sich lohne „back to the roots“ zu gehen, fügt er hinzu. Mehr Großboxen, reichlich Raufutter, Aktivställe – das alles sei „ja aktuell schon in der Pferdewelt zu beobachten“, sagt er. „Ich finde das klasse. Wer sein Pferd liebt, sperrt es ja nicht täglich 23 Stunden lang in die Box.“

Nicht nur Pferde, sondern auch Rinder und weitere Tierarten bevölkern die „Thüringeti“. Es ist ein einzigartiges landwirtschaftliches Projekt.
Foto: Thoms Lehmann

Genau das ist es, was das „Konzept Thüringeti“ ausmacht: die robuste, naturnahe Herangehensweise und der unbedingte Wille, die Dinge anders anzugehen. Farbenspiel und Forrest Gump sind leuchtende Beispiele dieses Konzepts. Einst waren sie erfolgreiche Sportler; nun widmen sie sich ganz dem Herdenleben. Ihre Nachkommen wiederum werden sich eines Tages unter dem Sattel wiederfinden. Und so schließt sich der Kreis der Thüringeti. Denn hier geht es zwar um Sportpferde, aber immer ist die Thüringeti der rote Faden, der ihre Biografie durchzieht.