Das Interview: Ein Tanz in Freiheit

1. März, 2024 | Ausgabe I/2024, Ein Team., Ein Team. [I/2024]

Jean-François Pignon verzaubert als lebende Legende Zuschauer weltweit mit seinen Pferden in der Freiheitsdressur. Schier unsichtbar versteht er es, Pferde zu seinen Gefährten zu machen. Sie folgen ihm auf kleinste Gesten hin – ohne Zwang, ohne Zaum, in Freiheit.

 

Autorin: Ines Vollmer

Die Pferde das tun lassen, was in dem Moment ihrem Gemütszustand und ihrer körperlichen Verfassung entspricht ist das A und O für Pignot.
Foto: Héry Nathalie

„Es liegt auf der Hand, dass ein Pferd, das etwas nicht versteht, sich nicht völlig wohlfühlen und frei sein kann.“

Wie bist du zur Freiheitsdressur gekommen?

Als ich 16 Jahre alt war, habe ich mit meiner damaligen Stute „Gazelle“ die ersten Momente in Freiheit erlebt. Sprichwörtlich in Freiheit, denn nach der Schule versuchte ich, einfach immer Zeit mit ihr zu verbringen und sie irgendwann auf der Wiese zum Spielen aufzufordern. Daraus entstand als eine der ersten Übungen, die ich ihr beibrachte, das Hinlegen. Nach und nach baute ich mit ihr spielerisch ein kleines Theaterstück auf. Von da an begann ich, meine ersten Auftritte mit ihr auf kleinen Dorffesten zu absolvieren. 1991, viele Jahre später, präsentierte ich erstmals in Avignon bei der Veranstaltung „Cheval Passion” meine Freiheitsdressur mit meinen Pferden – ohne Zaum und Sattel. Ein großer Erfolg, der mir den Weg für meine weitere Karriere ebnete.

Wofür ist die Freiheitsdressur gut?

Freiheitsdressur wird eingesetzt, um ein Pferd kontrollieren zu können, welches sich frei, aber trotzdem unter der Kontrolle seines Trainers bewegt. Ich selbst nutze die Freiheitsdressur auch für meinen Beruf als Reitkünstler und um die Verbindung zu den Pferden zu vertiefen.

Wie wirkt sich die Freiheitsdressur auf die Beziehung zwischen Mensch und Pferd aus?

Für mich sind Beziehung und das Training zwei ganz unterschiedliche Dinge. Wir können eine sehr gute Beziehung zu unserem Pferd haben, ohne dass es trainierte Lektionen zeigt. Wir können aber sehr wohl auch ein perfekt trainiertes, gar abgerichtetes Pferd haben – sogar in Freiheit – ohne unbedingt eine tiefere Beziehung zu dem Tier zu haben. Nachdem ich an einem außergewöhnlichen Projekt, eigentlich einem echten Abenteuer in Patagonien, teilnehmen durfte („40 Tage, 4 Criollos und die Stille“), wurde mir bewusst, wie unterschiedlich Beziehungsebene und Trainingsebene doch sind, wie sie sich aber natürlich auch ergänzen können. Die Wildpferde, denen ich im Rahmen des Projektes begegnete, ließen mich viele Dinge anders sehen. Ich konzentriere mich in meiner Arbeit mit den Pferden nun noch mehr darauf, eine gute Beziehung aufzubauen und mir erst dann zu erlauben, mit ihnen ins freie Training zu starten.

Anders als beim Horsemanship folgen deine Pferde der Gerte, anstatt vor ihr zu weichen. Heißt, sie ist ein Werkzeug, dein verlängerter Arm. Wie setzen sich deine einzelnen Hilfen für die Freiarbeit zusammen?

Die Hilfen, die ich einsetze, basieren auf einer recht einfachen Logik. Wenn ich mich einem Menschen verständlich machen will, muss ich in einer Sprache mit ihm sprechen, die er versteht. Zum Beispiel Deutsch für einen Deutschen, oder sogar eine gemeinsame Sprache wie Englisch verwenden, um verstanden zu werden. Also mache ich das Gleiche mit den Pferden. Ich versuche tatsächlich, mit einem Pferd wie seinesgleichen „zu sprechen“. Pferde sprechen miteinander durch Absichten, Körpersprache und in den meisten Fällen still. Also versuche ich, dasselbe zu tun. Das Phänomen, dass Pferde auf Unbehagen reagieren, kommt vor allem in der Herde im Spiel oder Kampf vor. Tatsächlich ist das Spiel eine Art simulierter Kampf, daher ist es sehr wichtig, zunächst Respekt zu etablieren, bevor man als Mensch ein Pferd zum Spielen einlädt, um beispielsweise auf diesem Weg an der Freiarbeit zu arbeiten.

Stimmt die Beziehung zwischen Pferd und Mensch, können unzählige Kommandos abgefragt werden.
Foto: Héry Nathalie

„Man muss mit sich selbst im Einklang sein, um mit den Pferden in Harmonie arbeiten zu können.“

Welchen Stellenwert hat deine Energie? Bist du bei der Freiarbeit energiegeladen, und deine Pferde sind es dann auch? Oder musst du immer im selben Energielevel Ruhe und Vertrauen ausstrahlen, egal bei welcher Übung und Gangart?

Es ist wichtig, Ruhe nicht mit Nachgiebigkeit und Energie nicht mit Nervosität zu verwechseln! Man muss ruhig sein und dabei trotzdem energetisch bleiben. Ebenso wichtig ist es, mit sich selbst im Einklang zu sein, um mit den Pferden in Harmonie arbeiten zu können. Wenn wir also das Pferd zum Spielen auffordern (meinem Grundstein bei der Freiarbeit), müssen wir im richtigen Energielevel zum Spielen einladen. Die Ernsthaftigkeit, die viele Trainer an den Tag legen, ist hierbei meiner Meinung nach fehl am Platz. Man muss in der Lage sein, eine schwierige Situation fast schon zu lieben und dieses Gefühl auch gegenüber den Pferden ausstrahlen.
Heißt, bei meiner Arbeit ist es wichtig, auch die Pferde lieben zu können, die etwas nicht verstehen. Und nicht nur die zu lieben, bei denen alles gut funktioniert. Ich muss also immer in der Lage sein, sehr positiv zu denken und dabei unerschütterlich Ruhe ausstrahlen. Menschlich gesehen ist das eigentlich nicht immer möglich, aber ich fokussiere mich darauf, Unmögliches wahr werden zu lassen.

Stress in der Freiheitsdressur ist einer der größten Feinde und Motivationskiller für Pferde, weshalb es bei deiner Art des Pferdetrainings keine Bestrafung gibt. Getreu dem Motto: das Pferd darf keine Angst haben, Fehler zu machen. Wie wird man zum Alphatier, ohne Stress und negative Energie auf die Tiere ausüben zu müssen?

Der Königsweg ist, mit einem Pferd in seiner Sprache zu kommunizieren und dabei „seine Codes“ zu respektieren und zu kennen. Das hilft Pferden zu verstehen, was wir von ihnen möchten. Es liegt auf der Hand, dass ein Pferd, das etwas nicht versteht, sich nicht völlig wohlfühlen und frei sein kann. Nur ein entspanntes Pferd kann meine Aufforderungen einschätzen und umsetzen. Für mich ist die beste Energie, die ein Pferd geben kann, die Energie der Begeisterung. Heißt, ich glaube daran, dass ein Pferd seine beste Leistung und sein höchstes Maß an Energie zeigt, wenn es von einem gewissen Wettbewerbsgeist oder Ehrgeiz angetrieben wird. Wenn mir Menschen erzählen, dass sie ein lustloses Pferd haben, frage ich sie, ob sie ihr Pferd schon einmal mit einem anderen Pferd spielen gesehen haben, denn normalerweise hat das „träge Pferd“ in diesem Moment plötzlich doch sehr viel Energie und Präsenz.

Der Unterschied ist, dass es mit seinem Artgenossen Spaß hat und mit den Menschen gelangweilt ist. Es liegt also an uns, sich selbst immer wieder infrage zu stellen und genauso interessant zu werden wie der Kumpel. Wir müssen uns auch in diesem Punkt auf eine gute Beziehung stützen und zu Interaktion auffordern, wie es Pferde untereinander tun. Bei der geringsten Anstrengung sollte man mit Gleichgültigkeit belohnen, denn Pferde handeln ebenso miteinander. Dies ist die Herangehensweise basierend auf dem natürlichen Verhalten von Pferden. Das Problem der Menschen ist, dass sie immer mit Stimme, Streicheleinheiten und Futter belohnen wollen und es dadurch meistens übertreiben! Man wird nie sehen, dass ein Pferd ein anderes Pferd streichelt, um es dafür zu belohnen, dass es seinen Forderungen nachgekommen ist. Und schon gar nicht wird es ihm ein Leckerli geben.

Man sieht bei deinen Auftritten oft, dass du zum Beispiel mit zwei Gruppen arbeitest (schwarze und weiße ­Tiere) oder auch mit kleineren Untergruppen. Wie funktionieren solche Figuren und Bilder in unterschiedlichen Formationen?

Ich versuche immer, auf all meine Pferde zu hören. Wenn beispielsweise während eines Trainings oder einer Vorstellung ein Pferd anfängt, den Rhythmus oder das Tempo zu verlieren, verlangsame ich es insgesamt bewusst für die ganze Gruppe. Es ist mir sehr wichtig, sicherzustellen, dass meine Pferde wirklich Lust haben, an einem Training oder einer Show teilzunehmen. Ich betone noch mal: die Motivation und die Begeisterung bleiben die beste und schönste Energie für diese Art von Arbeit bei den Pferden.

Wie beginnt man die Arbeit mit einem Pferd in Freiheit? Wie sehen die ersten Schritte aus – spielerisch, an der Longe oder braucht man gar eine Führperson?

Ich beginne auf die natürlichste Art und Weise, ohne Halfter, inmitten der Herde. Je besser sich das Pferd fühlt, desto leichter fällt es ihm, meine Aufforderungen anzunehmen. Ich versuche, seine Sprache und Signale zu respektieren und seine Begeisterung zu nähren, indem ich zufrieden bin mit dem, was es mir gibt. Ich nehme dabei niemals an, dass das Pferd etwas aus Kalkül tut, beispielsweise um mich zu ärgern. Solche Gedanken existieren für mich nicht. Pferde zeigen außergewöhnliche Hingabe, und es liegt an uns, uns darauf zu konzentrieren, die richtige Sprache zu sprechen, damit diese wunderbaren Tiere uns verstehen.

Harmonie und Leichtigkeit als Credo für das Miteinander.
Foto: Héry Nathalie

„Pferde zeigen außergewöhnliche Hingabe, und es liegt an uns, sich darauf zu konzentrieren, die richtige Sprache zu sprechen.“

Muss man jedes Pferd einzeln für die Freiheitsdressur grundausbilden und dann erst mit der Gruppe zusammenführen oder lernen sie auch voneinander oder gar miteinander?

Durch mein Training direkt in der Herde bringe ich ihnen Gruppenbewegungen direkt gemeinsam bei. Jedoch trainiere ich Übungen, wie beispielsweise das Hinlegen, einzeln, da es dabei keinen wirklichen Nachahmungseffekt gibt. Außerdem möchte ich etablieren, dass sich jedes Pferd auf meine Aufforderung konzentriert und nicht auf seinen vierbeinigen Nachbarn. Ich kann einem Pferd durchaus eine Übung einzeln beibringen, während es in seiner Herde bleibt. Es liegt an mir, interessant genug zu sein, um die Konzentration auf mich zu fokussieren.

Kann jeder Pferdecharakter in der Freiheitsdressur ausgebildet werden oder eignen sich bestimmte Typen besonders?

Wenn ich mit einem Pferd in Freiheit arbeite, versuche ich immer, mich seinem Charakter und seinen körperlichen Fähigkeiten anzupassen. Ich glaube nicht, dass es auf der Welt ein Pferd gibt, das nicht in der Lage ist, in Freiheit zur Interaktion eingeladen zu werden.

Gab es für dich einen Moment in der Freiheitsdressur, der dich sprichwörtlich sprachlos gemacht hat und dir als „der Moment“ in Erinnerung geblieben ist?

Ja, tatsächlich, und zwar erst vor einigen Monaten. Ich wollte meinem letzten Fohlen beibringen, sich auf eine minimale Geste hinzulegen, die einzig darin bestand, unter den Bauch zu klopfen. Auf den ersten Blick schien es unmöglich für das Fohlen zu verstehen, was ich von ihm wollte. Nach zehn Minuten legte es sich dann doch hin, obwohl es völlig frei in der Herde war. Das hat mich so überrascht, dass ich annahm, es sei Zufall. Am nächsten Tag versuchte ich es also erneut, um meine Annahme zu überprüfen. In wenigen Sekunden legte sich das Fohlen wieder auf völlig natürliche Art und Weise ab. Das hat mich so erstaunt, dass ich es bei einem meiner anderen Pferde ausprobiert habe. Das Ergebnis war dasselbe, immer noch mit der gleichen Verblüffung meinerseits. Um sicherzugehen, habe ich es dann mit einem völlig fremden Pferd versucht. Ergebnis: Es passierte überhaupt nichts.

Was war also der Unterschied? Zu letzterem Tier hatte ich keine Beziehung. Das hat mich einmal mehr darin bestärkt, dass es keinen Sinn ergibt, von einem Pferd Dinge zu verlangen, bevor man keine gute Beziehung zu ihm aufgebaut hat. Deshalb lehre ich heute mit Überzeugung, dass wir leider alle dazu neigen, zu schnell und zu früh zu viel zu wollen, obwohl es zunächst einzig und allein auf die Beziehung zu dem Pferd ankommt.

Experte

 

Jean-François Pignon ist Showstar, Pferdetrainer und Reitkünstler. Das Konzept der Freiheitsdres- sur hat sich der 1968 geborene Franzose durch jahrelanges „Studium der Pferde“ selbst ange- eignet. Im Fokus steht dabei immer die eigene Beziehung zum Pferd und das Verständnis für die Kommunikation zwischen Mensch und Pferd.
Foto: Véronique Fournier