Trainingsstunde: Reiten wie Musik

1. September, 2025 | Ausgabe II/2025, Ein Team., Ein Team. [II/2025]

Ob wir als ambitionierter Freizeitreiter, gemütlich im Gelände oder im Sport unterwegs sind, wir alle wünschen uns, mit unserem Pferd eine harmonische, vertrauensvolle Einheit zu bilden.
Voraussetzung dafür ist, dass wir leichter und feiner einwirken.

Autorin: Sandra Sehringer

Mit feiner Hand geritten dehnt sich das Pferd vertrauensvoll ans Gebiss heran, und die Bewegung fließt von hinten nach vorne durch den Körper.
Foto: Birte Ostwald

„Wir sollten uns immer wieder bewusst machen, dass es ein Geschenk ist, dass wir unsere Pferde reiten dürfen.“

Ob wir als ambitionierter Freizeitreiter, gemütlich im Gelände oder im Sport unterwegs sind, wir alle wünschen uns, mit unserem Pferd eine harmonische, vertrauensvolle Einheit zu bilden.
Voraussetzung dafür ist, dass wir leichter und feiner einwirken.

„Besser zu reiten, bedeutet immer auch, feiner zu reiten und damit pferdefreundlicher“, sagt Christoph Hess, der über 30 Jahre nationaler und internationaler Dressur- und Vielseitigkeitsrichter war und heute noch als Trainer und Ausbildungsbotschafter bei der Deutschen Reiterlichen Vereinigung tätig ist. „Wer mit Pferden umgeht, in welcher Form auch immer, ist ihnen gegenüber verpflichtet, sie so zu halten, auszubilden und zu bewegen, wie es ihrer Natur entspricht.“ Dazu gehöre nicht nur eine artgerechte Haltung und Fütterung oder die fachmännische Versorgung der Hufe und Zähne. Dazu gehörten insbesondere auch die richtige Kommunikation und das feine Reiten.

Christoph Hess hat seine Leidenschaft fürs feine, gefühlvolle und harmonische Reiten schon früh entdeckt. Er kam nicht aus einer Reiterfamilie und begann daher im Alter von acht Jahren ohne große Vorkenntnisse in einem Reitverein mit dem Reitunterricht. „Ich lernte viel von meinen Reitlehrern, machte aber auch viele Fehler“, erzählt der heute 75-Jährige. „Und so saß ich regelmäßig abends nach der Reitstunde an der Boxentür und entschuldigte mich bei meinem Pferd, weil ich aus Unwissenheit oder Unfähigkeit grob gewesen war.“ Er begann schließlich, Tagebücher zu schreiben, um täglich zu durchdenken, was jeweils richtig und was falsch gelaufen war. Je mehr der junge Christoph Hess in seine Pferde hineinhorchte und sich damit beschäftigte, was sie wohl in der Natur machen würden, desto feinfühliger und besser wurde sein Reiten. Auch heute noch liege ihm stets am Herzen, den Reitern und Reiterinnen mehr Verständnis und Gefühl für ihre Pferde zu vermitteln. So könnten die Tiere sie richtig verstehen und Freude an der Arbeit mit ihren Menschen haben.
Psychologie und Biomechanik

Voraussetzung für feines Reiten ist also, dass wir bereit sind, immer wieder in unsere Pferde hineinzuhören und zu fühlen, ihre Natur sowie ihre Körpersprache zu verstehen und selbst auf die richtige Weise mit ihnen zu kommunizieren. „Ein wesentlicher Punkt ist: Pferde sind Herdentiere und erkennen Hierarchien an“, erklärt Christoph Hess. „Ein junges oder unerfahrenes Pferd zum Beispiel reite ich daher nie allein in einer Reithalle. Gemeinsam mit einem älteren Pferd als Leittier in der Bahn wird es von ihm lernen, es wird sich sicherer fühlen, mutiger sein und schneller Vertrauen fassen.“ Neben der Psychologie des Pferdes sei jedoch auch seine Biomechanik ein wichtiger Faktor. Wer Pferde in der freien Natur oder auf der Weide beobachte, stelle fest, dass sie sich im Normalfall entspannt und mit nach vorwärts-abwärts gedehntem Hals fortbewegten. Dabei wird gegrast und der Rücken aufgewölbt; der Hals wird zum Ausbalancieren benutzt. „Schon als junges Pferd lernen die Tiere diese Haltung als angenehme Wellnesshaltung kennen“, sagt Christoph Hess. „Pferde wollen sich also dehnen, weil diese Haltung vor dem Hintergrund ihrer Biomechanik natürliche, ökonomische und damit nicht verschleißende Bewegungen zulässt.“ Beim Reiten sollten wir der korrekten Dehnungshaltung daher ebenfalls eine große Bedeutung zugestehen.

Richtig vorwärts-abwärts reiten

Man spricht beim Vorwärts-abwärts-Reiten im Schritt, Trab und Galopp von einer lösenden, also entspannenden Übung, die nicht nur am Anfang und am Ende der Bewegungseinheit, sondern auch immer wieder während des Trainings sinnvoll ist. Wichtig sei, dass sich das Pferd dabei aus dem Genick heraus dehnt und den Rücken leicht aufwölbt, also nicht nur den Kopf senkt. Es öffnet sich im Hals und dehnt sich regelrecht an das Trensengebiss heran. Das Maul sollte dabei jedoch nicht tiefer als das Buggelenk kommen, da das Pferd sonst möglicherweise seine Balance verliert. Der aufgewölbte Rücken wiederum ist wichtig für seine Tragefunktion. Die Vorwärtsbewegung erfolgt von hinten nach vorne durch den ganzen Körper des Pferdes. „Die Dehnung beginnt also im Hinterbein, das je nach Gangart aktiv, fleißig und taktsicher nach vorne unter den Schwerpunkt schreitet, tritt oder springt“, so Christoph Hess. Große gebogene Linien seien beispielsweise gut geeignet, um das Pferd mit dem inneren Schenkel an den äußeren Zügel heranzutreiben.

Wenn dem Pferd die richtige Dehnungshaltung schwerfiele, sei es hilfreich, an ein Schulterherein zu denken. Bei dieser Übung bewegt sich das Pferd auf drei Hufschlaglinien. Man führt die Vorhand um etwa 30 Grad nach innen, sodass der innere Hinterfuß auf der Linie des äußeren Vorderfußes tritt. Die Hinterhand bewegt sich geradeaus. Die Schultern des Reiters sind dabei parallel zu den Schultern des Pferdes. Der innere Schenkel treibt am Sattelgurt das Pferd an den äußeren Zügel heran. Das Schulterherein verbessert nicht nur die Balance des Pferdes, sondern auch dessen Geschmeidigkeit. Die vorwärts-seitwärts treibenden Hilfen beim Viereckverkleinern und -vergrößern könnten laut Hess ebenfalls helfen. Dafür benötigen wir nicht unbedingt ein Viereck beziehungsweise eine Reitbahn. Auch im Gelände können wir entlang einer gedachten diagonalen Linie über einen Weg den Schenkel weichen lassen. Dafür wird das Pferd leicht gegen die Bewegungsrichtung gestellt. Wollen wir beispielsweise von der linken zur rechten Seite des Weges den linken Schenkel weichen lassen, ist das Pferd leicht nach links gestellt, der innere linke Schenkel treibt etwa auf Höhe des Sattelgurts vorwärts-seitwärts, während der äußere rechte Schenkel verwahrend, also drucklos etwa eine Handbreit hinter dem Gurt, liegt. Der äußere Zügel verhindert ein Ausweichen über die Schulter, während die Vorder- und Hinterbeine möglichst parallel kreuzen. Am rechten Wegesrand angekommen reiten wir etwa eine Pferdelänge geradeaus, bevor wir das Pferd umstellen und nun zurück den rechten Schenkel weichen lassen.

Zügel als leichte Verbindung

„Generell dürfen wir beim Reiten auf keinen Fall rückwärts einwirken, also das Pferd vorne mit den Zügeln festhalten, während wir mit den Schenkeln treiben“, betont Christoph Hess. Die Reiterhand hat demnach nur eine leichte Verbindung, lässt aber die Dehnung zu, ohne das Pferd einzuschränken. Für eine feine Hand sollten wir darauf achten, dass wir im Handgelenk locker sind und auch die Schultern nicht verkrampfen. Die Faust wird daher nicht fest, sondern weich geschlossen, die Daumen liegen spitzdachförmig oben auf den Zeigefingern auf. Nur dann sind auch die Finger locker, ohne aber die Zügel versehentlich herausrutschen zu lassen. „Wir sollten uns als Reiter auch immer wieder selbst kontrollieren, ob wir uns nicht am Zügel festhalten“, rät Christoph Hess. „Eine gute entlarvende Übung ist das Reiten mit beiden Zügeln in der äußeren Hand, denn häufig reitet man unbewusst zu viel mit der inneren Hand.“ Das Reiten mit einer Hand sollten wir generell immer wieder ins Training einbauen, da das Pferd so den Ganaschenwinkel öffne und sich wieder dehne.

Den perfekten Winkel beim Vorwärts-abwärts gibt es so nicht. Manche Pferde gingen etwas tiefer, manche etwas weniger tief. „Wichtig ist vor allem, dass unser Pferd ausbalanciert in Selbsthaltung und in einem ausgewogenen Verhältnis geht“, erklärt Christoph Hess. Käme das Pferd beim Vorwärts-abwärts-Reiten mit längeren Zügeln zum Beispiel vermehrt auf die Vorhand, seien die treibenden Hilfen zu schwach oder das Pferd nähme sie nicht ausreichend an. Hier können häufige Übergänge innerhalb einer Gangart oder zwischen den einzelnen Gangarten helfen. „Dabei muss der Reiter aber darauf achten, dass die Hinterbeine jeweils gut herangeschlossen werden“, so der Trainer. „Das bedeutet, beim Übergang aus dem Schritt in den Trab spüren wir deutlich, dass der erste Trabtritt mit dem Hinterbein beginnt, nicht mit dem Vorderbein.“ Beim Durchparieren vom Trab zum Schritt dagegen gäbe uns das Pferd das Gefühl, von hinten weiter zu traben, während es vorne fast schon im Schritt sei. Mit dem Galopp verhält es sich ebenso.

Auch in freier Natur nehmen Pferde gerne eine entspannte Vorwärts-abwärts-Haltung mit leicht aufgewölbtem Rücken ein.
Foto: Birte Ostwald

Feiner Sitz für feines Reiten

Die meisten Pferde wollen grundsätzlich alles richtig machen. Wenn etwas nicht klappt, haben sie uns oft nicht richtig verstanden. Deshalb müssen wir beim Reiten auch sorgfältig darauf achten, konsequent die korrekten Hilfen zu geben. Doch nur dann, wenn wir uns dabei selbst losgelassen und unabhängig vom Zügel im Sattel ausbalancieren können, können uns auch unsere Pferde ausbalanciert tragen. Christoph Hess rät daher: „Wir sollten uns immer wieder fragen, was wir tun können, um balanciert zu sitzen und für unser Pferd keine Belastung darzustellen.“ Er empfehle seinen Reitern oft, sich einmal einen gefüllten Sack auf den Rücken zu legen, um zu verdeutlichen, wie es sich anfühle, wenn das Gewicht gleichmäßig verteilt, also ausbalanciert, oder ungleichmäßig verteilt und schief liege.

Der korrekte Reitersitz schwingt flexibel mit, aber mit der nötigen Körperspannung. Das bedeutet, wir passen uns geschmeidig den Bewegungen des Pferdes an, sitzen aber nicht so locker, dass wir im Sattel wackeln, rutschen oder das Pferd schieben. Dabei schmiegen sich Oberschenkel, Knie und Waden flach und unverkrampft an den Sattel beziehungsweise ans Pferd. Die Absätze federn locker nach unten und bilden den tiefsten Punkt des Reiters. Um das eigene Gleichgewicht im Sattel zu überprüfen, ist das Reiten mit einer Hand ebenfalls eine perfekte Übung. Auch ein gelegentliches gleichzeitiges Überstreichen ist hilfreich, um einen zu festen inneren Zügel zu verhindern und die richtige Anlehnung des Pferdes zu kontrollieren. Dabei schiebt der Reiter für zwei bis drei Pferdelängen beide Zügelhände am Mähnenkamm entlang ein bis zwei Handbreit nach vorne. Anschließend führt er die Hände wieder vorsichtig an ihre ursprüngliche Position zurück und nimmt die leichte Anlehnung wieder auf. Takt, Tempo und Selbsthaltung des Pferdes sollten während des Überstreichens bestenfalls gleichbleiben.
Das Leichttraben wie auch das Galoppieren im leichten Sitz unterstützen den Reiter ebenfalls dabei, die eigene Balance zu halten und den Bewegungen des Pferdes harmonisch zu folgen. Gleichzeitig entspannt das entlastende Sitzen den Rücken des Pferdes und fördert eine aktive Hinterhand, die unter den Schwerpunkt tritt. „Viele Reiter und Reiterinnen sitzen bereits nach wenigen Minuten des Lösens aus und vernachlässigen meiner Meinung nach den Vorteil des Leichttrabens und des Galoppierens im leichten Sitz“, erzählt Christoph Hess. Das richtige entlastende Sitzen sollte man aber ruhig vermehrt, nicht nur zu Beginn und gegen Ende des Trainings, sondern auch zwischendurch einsetzen. Beim Leichttraben lässt man sich von den Bewegungen des Pferdes rhythmisch hochfedern, ohne selbst aktiv aufstehen zu wollen. Die Zügelhände bleiben unabhängig davon und gehen nicht mit hinauf und hinunter. Im Galopp hebt sich das Gesäß des Reiters leicht aus dem Sattel, der Oberkörper neigt sich mit geradem Rücken etwas nach vorne, der Kontakt des Reiters zum Sattel bleibt jedoch bestehen. Das Reitergewicht wird dabei mit den Knien und den Füßen in den Steigbügeln abgefedert. „Der Schwerpunkt des Reiters liegt beim Leichttraben und beim Galoppieren im leichten Sitz dicht am Pferd, also nahe dem Schwerpunkt des Pferdes, denn je höher ich aufstehe, desto eher bringe ich mein Pferd aus der Balance“, so der Trainer.

Reiter als Alphatier

Wir wollen mit leichten Hilfen reiten, harmonisch und gemeinsam im Gleichgewicht. Wir wollen, dass sich unser Pferd verstanden und wohl fühlt, wenn wir es bewegen. Wir arbeiten an unserem Sitz, sind in der Lage, die reiterlichen Hilfen korrekt, eindeutig und konsequent zu geben, mit leichter Anlehnung und ausbalanciert im Sattel. Wir horchen in unser Pferd hinein und versuchen zu verstehen, was es möchte. Doch Vorsicht: Feines Reiten heißt nicht, das Pferd gehen zu lassen, wie es das gerade gerne hätte. „Natürlich dürfen wir nicht unfair sein; das Pferd darf keine Angst vor uns haben. Respekt aber schon“, erklärt Christoph Hess. „Wir müssen uns als Reiter bewusst sein, dass wir in der Hierarchie höher stehen als unser Pferd, dass wir das Alphatier sind und uns durchsetzen müssen, wenn natürlich auch im positiven Sinne.“ Ob beim Führen auf die Koppel, bei der Bodenarbeit, beim Longieren oder beim Reiten – das Pferd muss sich auf die Situation und den Menschen konzentrieren. Beim Reiten bedeutet das, dass es unseren Schenkel annehmen und auf unsere Hilfen angemessen reagieren muss. „Damit zum Beispiel das Hinterbein fleißig und engagiert nach vorne abfußt, muss mein Pferd die entsprechende Hilfe auch direkt umsetzen“, so der Trainer. „Ich darf als Reiter also nicht ständig mit dem Schenkel klopfen oder drücken, während unser Pferd die treibenden Hilfen ignoriert. Vielmehr muss ich ein Mal energisch eine Reaktion einfordern, wenn meine Hilfe nicht durchkommt.“ Bei Bedarf könne auch die Gerte eine Hilfe sein. Sie fungiere wie eine Art Taktstock eines Dirigenten. „Präzise, im richtigen Moment, in der richtigen Dosierung und am richtigen Ort eingesetzt, also an der Schulter oder direkt hinter dem Schenkel, dient die Gerte nicht zur Strafe, sondern nur zum Touchieren.“

Reiten wird dann zur Kunst – oder wie Christoph Hess es sagen würde – zur Musik, wenn wir als Reiter mit unserem Pferd zu einer Einheit verschmelzen, ein gemeinsames Ziel haben und uns im Gleichklang bewegen. Wenn es uns gelingt, unseren Körper mit dem des Pferdes in Balance zu halten und wir beide Freude an unserer gemeinsamen Arbeit empfinden, dann sind wir dem Ideal des feinen und pferdefreundlichen Reitens schon sehr nahe. Machen wir uns auf den Weg, mit viel Geduld, viel Gefühl und gemeinsamem Gleichgewicht.

Foto: Jil Haak

Experte

Christoph Hess ist Pferdemensch durch und durch. Er war etwa 40 Jahre für die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) tätig und verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung als nationaler und internationaler Trainer und Richter in der Dressur und in der Vielseitigkeit. Auch heute noch gibt er sein Wissen regelmäßig in Lehrgängen, bei Seminaren und auf Veranstaltungen weiter. Dabei liegt sein besonderes Augenmerk stets auf der Harmonie zwischen Pferd und Mensch, auf der Natur der Pferde und einer feinen Kommunikation. Zum Weiterlesen eignet sich sein Buch aus dem FN-Verlag „Besser Reiten – Von der Basisausbildung zum feinen Reiten“.

christoph-hess.com
@christophhesstrainer