Trainierst Du schon oder genderst Du noch?

1. März, 2022 | Ausgabe I/2022, Das Pferd., Das Pferd. [I/2022]

In unserer Menschenwelt wird „gendern“ gerade ganz großgeschrieben. Auch im Stall sind wir vor der Frage „Männlich, weiblich, divers?“ nicht gefeit. Wir schauen uns das Gendern im Pferdebereich gemeinsam mit Pferdemediator Timo Ameruoso genau an. Sind die Vorurteile berechtigt?

Autorin: Gabriela Grau

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„Es liegt nicht am Geschlecht, sondern am System, das wir Menschen uns für unsere Pferde ausgedacht haben.“

Der Hengst – ein gequältes Pferd?

Fangen wir mit den gängigsten Vorurteilen gegen Hengste an: Hengste sind aggressive Machos! Hengste gehören in Männerhände! Hengste reagieren auf den weiblichen Zyklus! Hengste gehören in die dunkelste Ecke gesperrt! Hengste dürfen nicht auf die Wiese! Hengste kann man nicht zusammen mit anderen Pferden in der Bahn reiten! Hengste, die nicht decken, sind gequälte Pferde! Hengste testen ihren Menschen auf Schritt und Tritt! Hengste müssen mit Gewalt ausgebildet werden! Hau dem mal richtig eins drauf! Das ist ein Hengst. Der braucht das! „Endlich ist diese Liste zu Ende! Mein Blutdruck ist mit jeder Aussage gestiegen“, sagt Timo Ameruoso. „Menschen, die solche Sätze formulieren, sollten eigentlich die Finger von Pferden lassen. Pferde sind sehr friedvolle und soziale Tiere. Auch Hengste. Sie müssen nicht mit Gewalt ausgebildet, eingesperrt oder isoliert werden.“ Wenn Hengste in der Natur ihre Herde verlieren, schließen sie sich ‚Junggesellen‘-Herden an, leben also weiterhin im Herdenverband und sehr selten ganz allein. Im Umgang mit dem Pferd müssen wir sein natürliches Verhalten kennen und verstehen. Dieses Detail ist entscheidend und für den täglichen Umgang wichtig. „Pauschal kann ich schon mal sagen: Es liegt nicht am Geschlecht, sondern am System, das wir Menschen uns für unsere Pferde ausgedacht haben“, sagt Pferdemediator Timo Ameruoso.

Kraft, Ausdruck und Eleganz: Hengste bestechen in ihrer Optik mit Muskelpaketen. Die trainieren sie schon in jungen Jahren spielerisch auf der Wiese. Was für uns wie ein Kampf aussieht, ist für Pferde ein freundschaftliches Miteinander.
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Ein guter Pferdemensch versteht die Natur des Pferdes und weiß sie für die Zusammenarbeit zu nutzen. So wird er zu einem verlässlichen Leittier für sein Pferd und baut eine vertrauensvolle Bindung auf. „Ich bin sogar der Überzeugung, dass Hengste schneller und intensiver Bindung zu ihrem Menschen aufbauen“, äußert er. Die Erklärung finden wir in der Natur: Um eine Bindung zur Stute zu erhalten, müssen Hengste um sie werben. Ähnlich verhalten sie sich auch bei ihrem Sozialpartner Mensch. „Stuten dagegen lassen sich gern ein wenig bezirzen, bis sie von einer Bindung überzeugt sind. Aber sie präsentieren sich dabei nicht so kraftvoll wie ein Hengst. Deshalb haben die meisten Menschen keine Angst vor ihnen, sagen ihnen aber Zickigkeit nach“, sagt der Pferdemediator. „Stuten fordern ebenso wie Hengste von ihrem Menschen eine klare, konsequente Kommunikation und haben einen genauso starken Fortpflanzungstrieb.“

Haltung ist entscheidend

Reagiert ein Hengst aggressiv, dann hat das in der Regel einen schmerzhaften, traumatischen Hintergrund oder er wird falsch gehalten. „Ein Hengst, der hinter Gittern in der hintersten Ecke des Stalls eingesperrt ist und nur zum Decken rausgeholt wird – wie soll der denn reagieren, wenn er endlich aus seinem Gefängnis darf?!“, sagt Timo Ameruoso. „Ebenso wie Stute und Wallach sollten Hengste mit Sozialkontakt und ausreichend Auslauf gehalten werden – also ja, Hengste dürfen, unbedingt sogar, auch auf die Wiese.“ Richtige Haltung beginnt schon mit einer artgerechten Aufzucht in einer Herde mit erwachsenen Pferden. Die Aufzucht stellt in der körperlichen und geistigen Entwicklung des Pferdes einen der wichtigsten Bausteine dar. „Passt all das, dann sind Hengste auch nicht aggressiv. Sie haben von Beginn an gelernt, mit ihren Artgenossen sozial umzugehen“, sagt der Pferdemediator. Nach der Aufzucht wird die Hengsthaltung gern zum Problem. Will man dem Hengst ein gutes Leben mit Sozialkontakt bieten, braucht man Platz. Der ist gerade in den großen Reitanlagen der Ballungszentren nicht gegeben. Auch die Stallgemeinschaft und das Personal müssen sich im Umgang mit Hengsten auskennen. „Unser Blick in die Reiter- und Pensionsstallwelt zeigt: das ist eher selten“, erklärt Timo Ameruoso.

In natürlich lebenden Pferdeherden leben Hengste und Stuten zusammen. Geführt wird die Herde von der Leitstute. Lediglich der Leithengst darf in dieser Herde decken.
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Selbstbewusstsein ist der Schlüssel

„Zeigen sich Hengste laut und schwierig im Umgang – bekannt als ‚hengstig‘ – ist das meiner Erfahrung nach eher ein Ausdruck von Stress und mangelndem Selbstbewusstsein“, sagt Timo Ameruoso. Ein Pferd mit großem Selbstbewusstsein braucht nichts zu fürchten. All das ist Trainingssache, bei der die respektvolle Bindung zwischen Mensch und Pferd im Fokus steht. „Ich kann z. B. mit meinen Hengsten über die Stallgasse gehen, sie auch mal mit der Nase an Stuten schnuppern lassen und dabei bleibt die Situation absolut cool“, erklärt Pferdemediator Timo Ameruoso. „Das ist Ausbildungssache.“

Ebenfalls Ausbildungssache ist, einen Hengst in der Bahn mit anderen Pferden zu reiten. Durch die zahlreichen Vorurteile, die über Hengste kursieren, haben viele Reiter mehr Angst, wenn ein Hengst in der Bahn ist. „Jedes Pferd – ganz gleich welchen Geschlechts – hat einen natürlichen Herdentrieb. Es zählt zu den wichtigsten Bausteinen der Ausbildung, Herdentrieb und Fluchtreflex aufzulösen“, sagt Timo Ameruoso.
In der Natur führt das Weibliche

In einer natürlichen, nicht vom Menschen beeinflussten, Pferdeherde leben Hengste und Stuten friedlich zusammen. Die Leitstute führt die Herde primär – auch gegenüber dem Leithengst. Decken darf in dieser Herde nur der Leithengst. „Es ist also keine Tierquälerei, wenn man einen Hengst hält, der nicht im Deckeinsatz ist. In der Natur deckt auch nicht jeder Hengst“, sagt Timo Ameruoso. „Im Training ist es egal, welches Geschlecht das Pferd hat, es gilt immer: Fluchtreflex abbauen, Bindung aufbauen. Das Pferd muss uns Menschen als Leittier akzeptieren – das bedeutet nicht, dass wir es gewaltsam unterwerfen.“ Klar ist jedoch: Ein*e unerfahrene*r, interessenlose*r Reiter*in sollte die Finger von Hengsten lassen – aber eigentlich auch von allen anderen Pferden. Ein*e gute*r Reiter*in bildet sich weiter, hinterfragt kritisch und sieht das Reiten nicht als wichtigsten Teil der Zusammenarbeit mit dem Pferd an.

Die Stute – das sanfte aber zickige Pferd?

Stuten sind zwar nicht ansatzweise so gefürchtet wie Hengste. Vor Vorurteilen ist jedoch auch das weibliche Pferd nicht sicher: Stuten sind zickig. Stuten in der Rosse sind schwierig. Stuten keilen aus und rennen Dich um. Stuten sind streitsüchtig.

Das größte Ziel einer Stute ist ein Fohlen. Stuten haben in der Herde zudem Führungscharakter, sind entsprechend konsequent und standfest. „Es liegt an uns Menschen, wie wir mit dieser natürlichen Anlage umgehen“, sagt Timo Ameruoso. „Für das Training mit Stuten heißt das: Wir müssen Geduld haben, mit Wissen und Strategie arbeiten, die Pfade der bekannten Ausbildungssysteme hinter uns lassen. Vergleichsweise werden wir eine Übung mit einer Stute länger probieren als mit einem Hengst oder Wallach.“
Keilen, beißen, kopflos umrennen – alle diese Reaktionen des Pferdes sind Reaktionen, die eine Ursache haben. Sei es, weil die Bindung nicht stimmt, das Pferd ein Trauma hat oder Schmerzen. Ein gesundes Pferd, das zu seinem Menschen eine Bindung hat, keilt nicht, beißt nicht und schon gar nicht rennt es den Menschen kopflos um.

Der Wallach – das hormonell saubere Pferd?

Vorurteile zum Thema Wallach sind tatsächlich selten. Es gibt über sie jedoch zahlreiche, eher schmeichelhafte Allgemeinsätze: Wallache tun alles für ihren Menschen. Wallache sind lieb. Wallache sind perfekt für Reitanfänger. Ein Wallach ist im Handling wahnsinnig einfach.
„Salopp gesagt, sind Wallache Pferde, die zu Fahrrädern gemacht wurden. Sie werden nicht von Hormonen geleitet. Es sei denn bei der Kastration und in der Nachbehandlung ist etwas schief gegangen“, sagt Pferdemediator Timo Ameruoso. Insofern sind Wallache duldsamer für den Pferdehalter und gelten vergleichsweise als unkomplizierte Anfängerpferde. Jedoch kann in der Geschichte des Wallachs vieles schiefgegangen sein. „Unter meinen Kunden sind auch zahlreiche Wallach-Besitzer. Eine Kastration ist keine Lösung für überholte Ausbildungssysteme“, erklärt er.

Der Wallach wird nicht von Hormonen gesteuert. Daher gilt er gemeinhin als sanftmütiges, duldsames Anfängerpferd.
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Kastration als Problemlöser?

Der Kastrations-Eingriff an sich gilt unter Tierärzten und einem großen Teil der Pferdebesitzer als „Routineeingriff“. Für den Pferdekörper ist das jedoch eine massive Veränderung. Bis sich der hormonelle Haushalt wieder im Gleichgewicht befindet, kann es bis zu sechs Monate dauern. Einige frisch kastrierte Hengste verfallen in dieser Zeit in eine Depression, auch bekannt als „Wallach-Loch“. Über kluges Training lässt sich das Selbstbewusstsein dieser Pferde wieder aufbauen. Wichtig ist auch, dass frisch kastrierte Hengste Zeit bekommen, diese hormonelle Umstellung zu durchleben. Wie bei uns Menschen gilt auch bei Pferden: Die einen überwinden diesen Eingriff, andere kämpfen ihr Leben lang mit den Folgen. Neueste Gender-Studien zeigen zudem, dass eine Kastration bei Stuten ebenso ein Problemlöser sein kann wie bei Hengsten. „Eine Kastration ist beim Hengst schon problematisch. Jetzt auch noch Stuten legen zu lassen, um sie hormonell auszuschalten und damit ‚einfacher‘ zu machen – weiter kann man sich von der Natur kaum entfernen!“, sagt Pferdemediator Timo Ameruoso. „Mein Rat: Die Natur des Pferdes verstehen lernen und mit diesem Wissen dem hochsozialen Wesen Pferd begegnen.“

Hat die Pferdewelt ein Gender-Problem?

Unter dem Strich lässt sich sagen: Nicht die Pferdenatur hat ein Genderproblem. Wir Menschen haben es. Die Natur hat unsere Pferde als Stute und Hengst geschaffen, sie alle leben friedlich in einer Herde zusammen und regeln untereinander, wer die Herde leitet. Die Pferde regeln auch innerhalb der Herde, welcher Hengst die Stuten decken darf.

Das Problem im Umgang und Training ist nicht das jeweilige Geschlecht, sondern die Art und Weise, wie wir Menschen mit dem Verhalten des Pferdes umgehen. Ist eine Stute rossig und zeigt sich daher etwas empfindlich – Hand aufs Herz: Frauen würden ihr Training in dieser hormonell schwierigen Situation doch auch anpassen! Ist es dann schlimm, das dem Pferd zu gönnen? Wir denken nicht! Im Hinblick auf ein gesundes Training des Pferdes macht nicht das Geschlecht den Unterschied, sondern der Charakter bzw. die Glaubenssätze des Menschen.

Was wir nicht wollen: Die Hengsthaltung für jedermann empfehlen. Hengst- bzw. Pferdehaltung generell erfordert viel reflektierte Expertise, immerwährendes Interesse und ständiges Lernen des Menschen. Nur dann kann das Pferd entspannt und gesund durchs Leben gehen. Was wir definitiv wollen: Mit den Vorurteilen aufräumen, denen viele Hengste und Stuten unterliegen.

Experte

Timo Ameruoso ist Pferdemediator und Buchautor. In seinen Kursen zeigt er, wie zwischen Mensch und Pferd eine feine Kommunikation entsteht.
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