Rasseportrait: Schwarzes Urgestein

1. März, 2023 | Ausgabe I/2023, Das Pferd., Das Pferd. [I/2023]

Steile, harte Hufe stapfen trittsicher über steinige Pfade. Ruhiges Schnauben ist zu hören. Die Herde sammelt sich zur Abendruhe. Fast scheint das schwarze Fell rötlich in der untergehenden Abendsonne. Wir befinden uns in der Murge, in den Bergen Apuliens, Italien. Eine teilweise raue und ungeschliffene Natur. Zaungrenzen sind nirgends auszumachen. Es macht den Anschein: Hier ticken die Uhren anders. Langsamer, entspannter. Abwartende und neugierige Blicke begegnen der kleinen Besuchergruppe. Die Glocke um den Hals der Mutterstute klingelt leise mit ihren Bewegungen. Hier sind sie zuhause. Hier werden sie geboren.
Die Murgesen.

 

Autorin: Ines Vollmer

Rasseportrait: Schwarzes Urgestein.
Foto: Kerstin Bernhardt

Die Murgesen sind eine in Deutschland weitestgehend unbekannte Rasse, deren Wurzeln bis zu den Neapolitanern ins 13. Jahrhundert zurückreichen. Eine kleine Population, deren Robustheit und Zugewandtheit dem Menschen gegenüber viele Kenner zu schätzen und zu achten wissen. Sylvia Ringeisen gehört zu den wenigen Reitern und Besitzern dieser schwarzen Schönheiten. 95 Prozent von ihnen sind Rappen, nur wenige werden als seltene Mohrenkopfschimmel geboren. Sylvia Ringeisen nennt nicht nur selbst einen Murgesenwallach ihr Eigen, sie ist auch Mitbegründerin und Betreiberin des Murgesen-Projektes, ausgehend vom Lengelshof in Deutschland. Sie begegnete dieser Rasse vor zirka 17 Jahren mehr durch Zufall als mit Plan. Damals erlebte sie das erste Mal einen Murgesen in der Working Equitation unter ihrem heutigen Ehemann Stefan Baumgartner, der somit zu den Ursprüngen des Projektes und der Idee maßgeblich beigetragen hat. „Das Pferd hat mir damals mit seiner Ausstrahlung, seinem Charakter und seinem Tun innerhalb der Disziplin sehr gut gefallen. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt das Projekt noch in weiter Ferne“, erinnert sich Sylvia Ringeisen, selbst bekannt aus der iberischen Szene. Im weiteren Zeitverlauf begegneten ihr bei seltenen Gelegenheiten immer wieder einzelne Vertreter dieser Rasse. „Mein Herz schlägt seit jeher für PRE, Lusitanos und nun auch für die Murgesen. Pferde aus der barocken Sparte faszinieren mich. Leider sind unter den spanischen Pferden gesunde Tiere mit einem klaren Kopf immer schwieriger zu finden.“ Das war ein entschiedener Grund für Ringeisen, sich schließlich auf die Murgesen zu besinnen. Gemeinsam mit ihren Töchtern und Mitinitatorinnen des Projekts, Hannah und Dinah, machte sie sich auf die Suche nach geeigneten Züchtern vor Ort.

2014 war es dann so weit, dass die drei Frauen zum ersten Mal gemeinsam nach Italien flogen. „Das hat mich einfach fasziniert! Es ist ganz anders, als man es zum Beispiel aus Portugal kennt. Es gibt viele Menschen, die gar nicht reiten, aber ihre Pferde beispielsweise in der Landwirtschaft einsetzen.

Aufgrund der überschaubaren Population der Murgesen kommen völlig unterschiedliche Pferdetypen vor. Vom klassischen Reitpferdetyp bis zum kräftig gebautem Pferd für die Landarbeit ist alles vertreten.
Foto: Kerstin Bernhardt

Soweit das Auge reicht

Die Tiere leben fast halb wild auf riesigen Flächen, zu denen man mit einem Geländewagen hinfahren muss. Keine Weiden, wie man sie hier kennt. Trotzdem sind die Stuten dem Menschen zugewandt und die Fohlen lassen sich anfassen“, beschreibt Ringeisen die für sie beeindruckenden Begebenheiten vor Ort. Damals und heute pflegen die Initiatoren des Murgesen-Projektes den Kontakt zu ausgewählten Züchtern, mit denen sich die Zusammenarbeit bewährt hat, „weil die Pferde dort einfach sehr, sehr pferdegerecht aufwachsen und es Züchter mit Leib, Seele, Herzblut und Verstand sind.“ Damals sei noch gar nicht das Ziel der Reise gewesen, Pferde nach Deutschland zu bringen, sondern erstmal die Gegend, die Züchter und die Pferde kennenzulernen. Auf dem Rückflug war die Gruppe dann jedoch so begeistert, dass während einer Zwischenlandung in Mailand schon die Idee zum Murgesen-Projekt geboren war. „Unsere Idee war die Rasse in Deutschland etwas bekannter zu machen, weil uns die Tiere mit ihrer Klarheit so beeindruckt hatten. Wir haben uns entschlossen und es dann einfach probiert“, erinnert sich Sylvia Ringeisen heute an die Anfänge.

Der erste Schritt war es für die Initiatorinnen, erstmal für eine Infrastruktur vor Ort zu sorgen. „Damals, vor zirka acht Jahren, kam während unseres Aufenthalts kaum eine Telefonverbindung zu den Züchtern vor Ort zustande. Ich sehe uns noch an unterschiedlichen Ecken anhalten, damit man überhaupt mal telefonieren konnte und Netz hatte. An den meisten Stellen gab es natürlich auch kein Internet. Oft sogar auch bei den Züchtern zuhause nicht. Straßennamen gibt’s sowieso keine. Es war wirklich abenteuerlich sich dort zurechtzufinden.“ Eine weitere große Herausforderung war es, einen Tierarzt auszumachen, der digitale Röntgenaufnahmen anfertigt, um die für das Projekt ausgewählten Pferde gesundheitlich bereits in Italien zu überprüfen. So wurde Stück für Stück für das Projekt ein kleines Netzwerk vor Ort aufgebaut.

Heute besuchen Sylvia Ringeisen und ihre Mitstreiter, so weit es die Gegebenheiten zulassen, einmal im Jahr die Züchter und die Herden, um geeignete Rassevertreter für den Einsatz in Deutschland auszuwählen. Darüber hinaus besuchen sie vor Ort auch andere Murgesenhalter nach Empfehlung der Züchter – denn auch dort könnten vielversprechende Tiere zu finden sein. „Die Murgesen sind keine durchgezüchtete Rasse, so dass man tatsächlich nur Pferde findet, die in den von uns gewünschten Reitpferdetyp passen. Wir versuchen darüber hinaus auch charakterlich gute Pferde zu finden.

„Was sie jedoch alle verbindet, ist die Liebe zu ihren Pferden.“

Murgesen treten als glänzende Rappen oder seltene Mohrenkopfschimmel auf. Je mehr die Sonne küsst, umso facettenreicher kann sich auch das Fell zeigen.
Foto: Kerstin Bernhardt

Dabei läuft die Auswahl vor Ort genau so, wie es auch in Deutschland wäre. Mit dem Unterschied, dass die Röntgenaufnahmen der untersuchten Pferde zusätzlich von einem deutschen Tierarzt beurteilt werden“, beschreibt Ringeisen das Prozedere. Beim Exterieur wird gezielt nach kleineren Pferden (im Schnitt 1,55 bis 1,66 Meter groß) gesucht. Der Rücken sollte gut, die Beine gerade, die Schulter schön schräg, die Kruppe rund, der Hals etwas länger und die Hufe durchschnittlich steil sein, da der alte Zuchtstamm oft die Tendenz zu sehr steilen Hufen zeigte, was in Deutschland schon fast als Bockhuf deklariert würde.

Seltenheit sollte man zu schätzen wissen

Nach Deutschland auf den Lengelshof kommen dann Stuten und Wallache, welche gute Röntgenaufnahmen vorweisen können. „Erst hier können wir, während wir mit den Pferden arbeiten, den Charakter der Pferde in Ruhe einschätzen und demzufolge auch zukünftigen Besitzern beschreiben. Wir möchten eine harmonische Partnerschaft zusammenbringen. Nicht jedes Pferd passt zu jedem Menschen“, wissen die Projekt-Initiatoren aus Erfahrung Bei den Züchtern in Italien werden die Hengste etwa zweijährig von der Herde getrennt und aufgestallt. In der Regel folgt mit 30 Monaten die Körung, die jedes Jahr im Dezember stattfindet. Ein Insidertreffen, bei dem Sylvia Ringeisen bereits einige Male dabei war. Hier weiß man die Unerschrockenheit und die Klarheit dieser Pferde zu schätzen. „Sie sind nicht kopflos und bleiben eher stehen, wenn sie sich erschrecken, als dass sie losrennen. Murgesen sind sehr menschenbezogen und zugewandt. Wenn man diese Pferde auf seiner Seite hat, tun sie fast alles für einen“, weiß die Murgesenbesitzerin aus eigener Erfahrung. Ein hochkarätiges Spring- oder Grand-Prix-Pferd könne man aus einem Murgesen natürlich nicht machen, aber einen verlässlichen und vielseitigen Freizeitpartner. Sei es für Geländeritte, Bodenarbeit, einen kleinen Sprung oder Working Equitation. Wobei man auch dort für die höheren Klassen ein besonders wendiges und biegsames Exemplar brauche.

Die naturbelassene Gegend Italiens mit ihren weitläufigen Wiesen bietet einzigartige Zucht- und Lebensverhältnisse für die Herden.
Foto: Kerstin Bernhardt

Die Kennerin rät, den Murgesen Zeit in ihrer Entwicklung zu geben, da diese Rasse eher zu den Spätentwicklern zähle. Bis zum sechsten Lebensjahr können die Pferde durchaus wachsen, weshalb eine pferdegerechte und schonende Ausbildung das A und O sei. Sylvia Ringweisen hat ihren eigenen Murgesen „Luca Pastore di Vallenza“ selbst bereits erfolgreich bis zur Klasse L in der Working Equitation vorgestellt, ebenso wie ihre Tochter Hannah ihren Murgesen „Ghibly“. Dinahs „Uccio“ ist seit einigen Jahren in seiner wohlverdienten Rente, wurde aber ebenfalls erfolgreich bis Klasse M geritten. Die Frauen haben die Rasse selbst lieben und schätzen gelernt und möchten sie nicht mehr missen.

„Ich finde diese Pferde einfach toll, weshalb wir auch in einem bewusst kleinen Rahmen das Projekt immer weiter fortführen möchten“, erklärt Ringeisen. Eine Zucht in Deutschland aufzubauen sei deshalb auch nicht erstrebenswert und kein Ziel des Projektes, um die Qualität der Pferde zu wahren und zu erhalten. Sylvia Ringeisen ist davon überzeugt, dass es den Rassenpopulationen gut tut, wenn sie relativ klein gehalten werden – so bleibe die Rasse gesund. Murgesen, die beispielsweise in Deutschland geboren werden, bekommen auch keine rassetypischen, original italienischen Papiere. „Wenn man plötzlich anfangen würde auch im Ausland zu züchten, wäre das meiner Meinung nach das Ende dieser besonderen Rasse. Diese einzigartigen Zuchtbedingungen vor Ort können einfach nirgendwo anders geschaffen werden und tragen einen wesentlichen Teil zu dieser besonderen Art von Pferden bei.“ Dies ist auch ein Grund dafür, dass sich das Murgesen-Projekt ganz klar für die genaue Auswahl der zu importierenden Pferde ausspricht und nur sehr wenige Tiere pro Jahr nach Deutschland bringt. Hier steht Qualität vor Quantität. Und über allem steht die Liebe zu dieser besonderen Rasse.

Kraftvoll und einzigartig gepaart mit einem ehrlichen und klaren Wesen. Das ist es, was die Murgesen ausmacht.
Foto: Kerstin Bernhardt