Naif, der Außergewöhnliche

1. März, 2023 | Ausgabe I/2023, Das Pferd., Das Pferd. [I/2023]

Moment mal: „Außergewöhnliche Pferde“? Eventuell stutzen Sie hier, denn sonst trug diese Rubrik den Titel „Berühmte Pferde“. Doch ab sofort wollen wir hier auch jenen Pferden eine Bühne bieten, die noch nicht zur vierbeinigen Prominenz gehören. Stattdessen möchten wir die Geschichten ganz besonderer Pferde erzählen, die es verdienen, gehört zu werden. Den Anfang macht Naif el din. Ein junger Araberhengst, dessen Lebensfreude einfach ansteckend ist.

 

Autorin: Kristina Sehr

Ein Fohlen mit auffälliger Optik: Naif kam mit dem „Wry Nose“-Syndrom zur Welt.
Foto: Malin Timm

Der Name „Naif“ stammt aus dem Arabischen. Seine Bedeutung: „Der Außergewöhnliche“. Und kaum ein Name könnte wohl passender sein für Naif el din, einen quirligen Araberhengst, der im März 2022 in Niedersachsen zur Welt kam.

Seine Züchterin und Besitzerin Janine Tiedemann wartete sehnsüchtig auf den Moment der Geburt. Schon mit zwölf Jahren hatte sie ihre Liebe zu Araberpferden entdeckt und war der eleganten Rasse seitdem treugeblieben. Sie war 24, als die Stute Nefousa den Weg in ihren Stall fand, nur zufällig kreuzten sich ihre Wege, als die junge Frau eigentlich Ausschau nach einem Warmblutpferd für ihre Schwester hielt. Bis heute verbindet die Stute und Janine Tiedemann ein enges Band. Vor zehn Jahren brachte Nefousa die Stute Nourah auf die Welt, über die ihre Besitzerin selbst sagt: „Sie ist mein absolutes Herzenspferd.“ Umso emotionaler war es für die begeisterte Reiterin und Züchterin, Nourahs erste Trächtigkeit zu begleiten. Als Deckhengst hatte sie den edlen Schimmel Al Tair Mounaz El Din ausgewählt – eine Entscheidung, die erst nach langer Recherche fiel, immerhin sollte die Wahl wohlüberlegt sein. Die Trächtigkeit verlief unauffällig, dem Abfohltermin blickte die Niedersächsin zuversichtlich entgegen.

In derselben Box, in der sie einst selbst zur Welt kam, fohlte nun Nourah. Als aber das so sehnlichst erwartete Fohlen endlich im Stroh lag, erschrak Janine Tiedemann. Ein einziger Blick reichte, um festzustellen, dass etwas nicht stimmte. „Ich war schockiert“, erinnert sie sich. „Seit 30 Jahren habe ich Pferde, aber das hatte ich noch nie gesehen.“ Der Oberkiefer des Fohlens war stark deformiert. Glücklicherweise konnte die Tierärztin weiterhelfen. Diagnose: „Wry Nose“-Syndrom. Dabei handelt es sich um einen Geburtsdefekt. Die betroffenen Pferde kommen mit einer verkrümmten Nase zur Welt. Die Ausprägung kann allerdings unterschiedlich stark sein: Während manche Fohlen nur eine leichte Veränderung aufweisen, sind andere Fälle so stark ausgeprägt, dass die Fohlen kaum lebensfähig sind.

Zwar außergewöhnlich, aber doch an Lebensmut kaum zu überbieten: Naifs Geschichte ist die eines Kämpfers.
Foto: Malin Timm

„Ich war wie gelähmt“, sagt die Besitzerin über die ersten Minuten nach der Geburt. „Und immer wieder habe ich mich gefragt: Warum musste das passieren? Aber dann gerät man in einen Recherche-Modus und versucht, möglichst schnell möglichst viele Informationen zu beschaffen. Denn dem Pferd zuliebe muss man Entscheidungen treffen – und dafür braucht man Wissen.“
Während sie Infos sammelte, fand der kleine Hengst den Weg ins Leben. Die erste Milch erhielt er noch mithilfe einer Flasche. Schon nach 24 Stunden trank er aber – trotz verkrümmter Nase – selbst am Euter. Und schnell wurde deutlich, dass er sich von seiner Besonderheit nicht einschüchtern ließ. Denn der kleine Jungspund sprang und flitzte schon in seinen ersten Lebenstagen umher und strahlte pure Freude aus. Schnell war auch ein Name für den auffälligen Zögling gefunden: „Naif el din“ – „der Außergewöhnliche“.

Gleichzeitig las sich Janine Tiedemann immer mehr Wissen rund um das „Wry Nose“-Syndrom an. „Dabei bemerkte ich, dass dieser Defekt deutlich häufiger vorkommt als gedacht. Allerdings werden viele betroffene Pferde unmittelbar nach der Geburt eingeschläfert. Darum tauchen sie kaum in Statistiken auf“, berichtet sie. Der Grund für die hohe Dunkelziffer: Rein wirtschaftlich betrachtet ist die Behandlung des Syndroms ein Verlustgeschäft, denn falls die Deformierung überhaupt operiert werden kann, werden schnell einige Tausend Euro fällig. Doch Naifs Besitzerin stieß auch auf einen Lichtblick. Sein Unterkiefer war gerade, eine Operation schien möglich – und versprach ihm ein besseres, artgerechtes Leben. Denn mit verkrümmter Nase wäre es auf Dauer unmöglich, zu grasen oder Heu zu fressen.

Aber wie sollte Janine Tiedemann, selbst nur Hobbyzüchterin, die teure Operation des Fohlens bezahlen? Hier kamen die sozialen Medien ins Spiel. Schon rund eine Woche nach Naifs Geburt hatte sie ein Instagram-Profil angelegt und dort seine Entwicklung dokumentiert. Ihr Ziel war es, über das Syndrom aufzuklären und die ungewöhnliche Geschichte ihres Fohlens zu erzählen. Womit sie nicht gerechnet hatte: Schnell bildete sich eine starke Community und immer mehr Menschen verfolgten Naifs Schicksal. Diese Menschen waren es auch, die schließlich Geld spendeten und so Naifs Operation ermöglichten. „Dafür haben wir alles offengelegt, bis zur letzten Rechnung“, sagt Janine Tiedemann. „Nie hätte ich mit so einer Unterstützung gerechnet. Ich hatte noch nie zuvor ein Pferd in die Klinik gebracht. Aber die Anteilnahme und das positive Feedback der Menschen gab mir Kraft. Ohne die Spenden wäre all das wohl gar nicht möglich gewesen.“

Die Operation hat Naifs Lebensqualität deutlich verbessert. Nun darf er das typische Leben eines „Halbstarken“ leben.
Foto: Malin Timm

Schnell fiel die Wahl für die Operation auf die Tierklinik Lüsche – neben der Uniklinik in Berlin der einzige Ort in Deutschland, an dem die „Wry Nose“-Fohlen operiert werden; durchschnittlich ein bis zwei Fohlen werden hier pro Jahr behandelt. Aber obwohl zu Beginn nur eine OP geplant war, musste Naif aufgrund von Komplikationen sogar noch ein zweites Mal unters Messer. Dreieinhalb Monate alt war er, als die aufwändige Prozedur durchgeführt wurde – höchste Zeit, denn das Fressen fiel ihm zunehmend schwer. „Je älter die Fohlen werden, desto wichtiger wird es, dass sie auch kauen können und nicht nur Milch trinken. Deswegen kann man auch nur Fohlen operieren – weil für erwachsene Pferden das Kauen unverzichtbar ist“, erläutert Janine Tiedemann. Aber so anstrengend die Klinikzeit auch für Naif, seine Mutter Nourah und seine Besitzerin war: Am Ende lohnte sich all die Anstrengung. Denn es gelang den Tierärzten, die Verkrümmung weitgehend zu korrigieren. Das Ergebnis könnte ein langes, unbeschwertes Leben sein.

„Könnte“? Ja, denn auch in Zukunft muss Naifs Zustand regelmäßig kontrolliert werden. „Es ist schwer abzuschätzen, wie genau er sich entwickeln wird, und auch, ob er beispielsweise geritten werden kann“, sagt Janine Tiedemann. Ursprünglich hatte sie geplant, das Fohlen zu verkaufen, falls es ein Hengst würde. Doch jetzt, nach den ersten gemeinsamen Monaten mit Naif, könnte sie sich auch vorstellen, den spitzbübisch dreinblickenden kleinen Hengst zu behalten. „Seine Geschichte ist eine besondere. Und ich will die bestmöglichen Bedingungen für ihn schaffen. Also: Wer weiß, welchen Weg wir noch zusammen gehen“, sagt sie.

Wenn Janine Tiedemann von ihrem Fohlen erzählt, wird spürbar, wie sehr Naif sie mit seinem unerschütterlichen Lebensmut beeindruckt. „Er hat ein unglaubliches Selbstbewusstsein“, sagt sie. „Angst kennt er nicht. Oft trug er sein Schicksal mit viel mehr Fassung als ich. Er ist so lebensfroh.“ Der Preis, den man zahlen müsse, um einem Fohlen wie Naif ins Leben zu helfen, sei allerdings hoch, sagt sie – nicht nur wortwörtlich. Ohne Unterstützung aus dem Familienkreis und auch aus der Online-Community hätte all das nicht geklappt, wie sie hinzufügt. „Ich bin so glücklich darüber, dass mich so viele Menschen getragen und mir geholfen haben.“ Das schönste Ergebnis all dieser Hilfe ist Naif. Wenn dieses Magazin erscheint, ist er schon beinahe ein Jahr alt – und blickt den nächsten Jahren lebensfroh und quirlig entgegen.

 

Instagram: @naif.deraussergewoehnliche