Kolumne: Von der Kunst, sich Zeit zu lassen
Jahrelang träumen die Pferdemenschen dieser Welt vom eigenen Pferd. Dabei sind die ganz Verrückten die, welche sich für ein Jungpferd entscheiden. Und ist das Jungpferd dann gekauft und gerade angeritten, soll die Ausbildung auch so richtig und lückenlos ablaufen. Die Jungpferdebesitzer träumen bereits voller Euphorie von der vielseitigen Reitkarriere auf einem feinen, lauffreudigen Pferd.
Autorin: Meike Nisius
Die Realität
Zu schön, um wahr zu sein, denn die Jungpferdeausbildung bedeutet oft erstmal eines: Warten und Pause machen! Eigentlich alles kein Problem. Denn wer hetzt uns Jungpferdebesitzer eigentlich? Im besten Fall liegen mindestens 30 aufregende, gemeinsame Jahre vor uns. Eine lange Zeit also. Und Überraschung: Je langsamer wir es mit der Ausbildung unseres Reitpartners am Anfang halten, desto länger begleitet er uns gesund durchs Leben. ABER: Wohlwissend, dass eine Pause gar nichts Schlimmes ist – im Gegenteil – gibt’s da dieses herrlich urgemeine Flüstern auf der Stallgasse: „Du musst aber…“, „Bodenarbeit ist nichts für Reitpferde“, „Der verkaspert Dich nur!“, „Ich reite mit meinem Vierjährigen schon erfolgreich Turniere!“ Und so wächst die Verunsicherung in den Jungpferdebesitzern, Zweifel machen sich breit. Diese werden dann noch durch die strikten Vorgaben der FN untermauert, die das junge Pferd in ein prüfungsorientiertes Regime bringt und Leistungen verlangt, die es teilweise schlicht nicht leisten kann. So sollen vierjährige Pferde beispielsweise in vorgegebenen Stationsprüfungen glänzen. Teilnahmeberechtigt sind bereits dreijährige Pferde. Und was ist nun, wenn das eigene Jungpferd diese Anforderungen im Alter von vier Jahren noch nicht leisten kann? Was ist, wenn das Pferd über Buckeln, Beißen, Rückwärts laufen, Entziehen, Schütteln oder schwierige Rittigkeit sein körperliches und psychisches Ungleichgewicht zeigt? Den Gehorsam mit allen Mitteln durchsetzen oder dem Pferd Zeit lassen? Ich habe mich für Zeit entschieden – und wurde reich belohnt.
Wertvolle Pausen
Die Ursachen für Pausen sind so unterschiedlich wie die Pferde, welche in den Ställen stehen: Betrachtet man sich die jungen Pferde einmal genau, sieht man teilweise massiv überbaute Pferde, oft noch zu lange und schmale Hälse, schiefe Rücken, instabile Kniebänder – physisch sind diese Pferde definitiv nicht in der Lage einen Menschen, geschweige denn sich selbst zu tragen. Sie wissen oftmals selbst nicht genau, wo sie anfangen und aufhören. Mental gibt es Spätentwickler, die wollen drei- oder vierjährig einfach noch nicht und können psychisch die ganze Reiterei einfach noch nicht verarbeiten und verstehen. Und in all diesen Fällen sind Pausen tatsächlich wertvoller als gute Gymnastizierung. Ein Pferd, das körperlich nicht im Gleichgewicht ist, kann nicht nachhaltig lernen. Es befindet sich auch geistig nicht in der Balance.
Zweifel versus Bauchgefühl
Wie lange diese wertvolle Pause dann dauert, hängt individuell vom Pferd ab. Während sich viele Jungpferdebesitzer aktiv für eine Pause von drei Monaten entscheiden, gibt es auch unzählige Verletzungs- und Wachstums-Pausen, die so nicht geplant gewesen wären, und dann von der individuellen Genesungszeit abhängen. Die Jungpferdebesitzer gehen also monatelang spazieren und stehen der Welt der Bodenarbeit immer aufgeschlossener gegenüber. Der Sattel verstaubt ein wenig und so richtig wird das nichts mit der Reitpferdkarriere. Und während all der ungeplanten Pausen mit ungewisser Länge, meldet sich wieder die kleine zweifelnde Stimme im Hinterkopf: „Sollten wir nicht schon viel weiter sein?“, „Stimmt etwas nicht mit meinem Pferd?“, „Mache ich etwas falsch?“
Sich mit der Ausbildung Zeit zu lassen, erfordert Mut. Soviel ist gewiss. Diese Variante erfordert, auf das eigene Bauchgefühl zu vertrauen. Und darüber inneren Frieden mit der zweifelnden Stimme zu machen. Aber dem Pferd schadet mehr Zeit nicht. Das junge, körperlich und psychisch wachsende Pferd gibt den Takt der Ausbildung vor. Denn glaubt mir – in diesen wertvollen Pausen tut sich in den wunderbaren Lebewesen, die wir da täglich umsorgen und von ganzem Herzen lieben, sehr viel Wunderbares: Durch all das Spazierengehen, diverse entwickelte Fähigkeiten in Zirzensik, Equikinetic, Freiarbeit und Doppellonge entsteht ein solide grundausgebildetes, vielseitiges Pferd, welches mit Vertrauen in seinen Menschen in eine vielversprechende reiterliche Zukunft startet – bloß eben etwas später als die Regel es vorgibt.
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