Der Urgedanke des Turnierreitens

1. September, 2021 | Ausgabe II/2021, Ein Team., Ein Team. [II/2021]

Entstanden ist der Wettkampf zu Pferd bereits vor Jahrhunderten. Im Turnierreiten geht es heute wie damals um die Leistungserbringung im Wettkampf. Die Grundidee ist gut, denn sie soll dem Reiter Ansporn, Motivation und zugleich Verbesserungsgrundlage für seine weitere Ausbildung sein. In der Neuzeit kam neben Rennreiten, Springreiten und Military die Disziplin Dressurreiten auf. Gehorsam und Rittigkeit waren hier gefragt. Eigenschaften, die in der militärisch geprägten Nutzung des Pferdes lebensentscheidend sein konnten. Im Dressurreiten errang Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts gesteigerte Beachtung in der ganzen Reiterwelt, deren Höhepunkt etwa Mitte der 1930er-Jahre erreicht wurde. Dieser reiterliche Weltruhm, der bis heute seine Spuren hinterlassen hat, machte uns über Jahrzehnte zu einer angesehenen Reiternation.

Autor: Christoph Ackermann

Christoph Ackermann setzt in seiner Ausbildung von Pferd und Reiter auf die Lehre Egon von Neindorffs.
Foto: Ch. Schaffa

Neuer Gedanke des Turniersports

Aber wie präsentiert sich die jetzige Turnierreiterei? Eins ist sicher: Die Prinzipien der klassischen Reiterei hat der Turniersport heute längst hinter sich zurückgelassen. Das Wissen um die Details, wie also pro Pferd Leistung eingefordert werden kann und wo sich deren Grenzen befindet, ist seit ewigen Zeiten in der klassischen Literatur exakt beschrieben. Denn in dieser naturgemäßen – und das verstehe ich unter „klassisch“! – Reitkunst stehen von Anfang an die Kräftigung des Pferdes und der Ausbau seiner Bewegungen analog zu seinen individuellen, natürlichen Gegebenheiten im Vordergrund. Freilich: Heute geht es um Sport in Reinform, der sich – zum Glück – ohne die ursprünglichen militärischen Notwendigkeiten präsentieren darf.

„Die Visitenkarte, die der Reitsport heute abgibt, ist für sehr viele Reiter nicht mehr akzeptabel!“
(Christoph Ackermann)

Sinkende Mitgliederzahlen

Wie also ist die Dressurreiterei im Turniersport heute national organisiert? Die Deutsche Reiterliche Vereinigung e.V. (FN) sieht sich als maßgebende Institution in punkto Reiterei und Pferdehaltung und möchte für alle Reiter sprechen. So sollte das artgerechte Training der Pferde im Mittelpunkt einer klassischen Ausbildung stehen. Dokumentiert wird dies in den FN-eigenen Richtlinien, die ihren Ursprung in der H.Dv.12 hatten. Damit sollte die FN eigentlich „Hüter des Grals“ sein. Die Richtlinien wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder überarbeitet und dem Zeitgeist angepasst. Ganz gleich jedoch, ob wir uns im Freizeitreiterbereich, auf Messen oder im Turniersport befinden, überall finden wir, wie eben auch in diesen Anpassungen, ein zunehmendes Entfernen der Reiter- und Pferdeausbildung von ihrem klassischen Ursprung – die negativen Auswüchse sind ja ganz offen zu sehen. Das Resultat: Die Mitgliederzahlen der Deutschen Reiterlichen Vereinigung sinken und die kleinen und mittelgroßen Reitturniere verlieren für Fachzuschauer und externes Publikum ihre Attraktivität. Nach den FN-eigenen Erhebungen von 2019 gibt es in Deutschland rund 3,9 Millionen besonders am Pferdesport Interessierte. In der FN sind rund 683.000 organisiert, also nur 17,5 Prozent aller Reiter. Hiervon haben etwa 80.000 eine Turnierlizenz, also 0,2 Prozent aller Reiter in Deutschland. Ein noch geringerer, prominenter Bruchteil davon wird mit Vorbildcharakter in Fachmagazinen als gut und richtig hervorgehoben, zum Teil mit Fotos, bei denen Körperhaltung, Balance und Takt nicht in Ordnung sind.

Mehr Empathie im Wettkampf

Die grobe Reiterei auf den Turnierplätzen nimmt auf diese Weise kein Ende. Ein Reiter, der empathisch mit seinem Pferd umgehen möchte, kann sich daran kaum orientieren. Genau diese überwiegende empathische Mehrheit der Reiter gilt es aber für den Verband zu gewinnen! Der Turniersport sollte doch Anreiz sein, Reiter als Mitglieder zu werben? Nun, die Visitenkarte, die der Sport hier aber abgibt, ist für sehr viele Reiter nicht mehr akzeptabel.
Der Grundgedanke des Dressurreitens beginnt mit der Reinheit des Gangs, der Lockerheit und der Einhaltung der notwendigen Gleichgewichtszustände von Pferd und Reiter. Dabei soll das Pferd so entwickelt, gymnastiziert und gefördert werden, dass sein Körper vervollkommnet wird und alle seine Glieder und Körperteile in einer losgelassenen Form harmonieren. Solange wir uns an diese natürlichen Vorgaben des Pferdes in der Ausbildung richten, genauso lange arbeiten wir mit dem Pferd.

Zu schnell zu viel verlangen

Das Gegenteil davon findet statt, wenn wir Pferde künstlich im Hals runden oder anderweitig zusammenschrauben, um dort eine vermeintliche „Versammlung“ und „Haltung“ hingedrückt zu bekommen, die so aber gar keine reelle Versammlung mehr ist und somit vom Pferd auf Dauer nicht ertragen werden kann. Ein Abbiegen oder Runden des Halses im zweiten und dritten Halswirbel entspricht eben nicht der von der klassischen Reitkunst – im Ergebnis aller guten Vorbereitungen – eingeforderten, freiwilligen Hergabe des Genicks. Mit der künstlichen Rundung des Halses und der damit einhergehenden Veränderungen der natürlichen, hochgradig leistungsfähigen Rückentätigkeit des Pferdes, befinden wir uns bereits im Bereich der Arbeit gegen das Pferd. Sehenden Auges: Das Pferd ist nicht mehr Partner, sondern Gegner!

Christoph Ackermann reitet selbst in den hohen Klassen Turnier und ist davon überzeugt: Sportlich orientiertes Reiten ist auch pro Pferd möglich – wenn sich an einigen Bewertungskriterien etwas ändert.
Foto: Ch. Schaffa

Basis der frühen Turnierreiterei

Um Derartiges zu vermeiden bzw. „gut zu reiten“, brauchen wir ein Verständnis für die individuellen Möglichkeiten unseres Pferdes. Unseren reiterlichen Fokus müssen wir zuallererst auf unsere eigene theoretische Bildung sowie unseren Reitsitz legen. Nur als feinfühliger Reiter erkennen wir die Balancesituation unseres Pferdes und können sie mit der Skala der Ausbildung in Einklang bringen. Auch für einen guten Reiter bleibt das eine ernstzunehmende, jahrelange Herausforderung. All das war die Basis des früheren Turnierreitens. Seit über fünf Jahrzehnten stellen wir nun aber einen fortschreitenden Wertewandel fest. Zurückzuführen ist dies auf die – und ich unterstelle in vollem Bewusstsein – von FN und DRV getroffene Entscheidung für die Show im Turniersport. Dabei liefert die Sportreiterei in der Öffentlichkeit eine negative Steilvorlage, die es gar nicht bräuchte. Ein Publikum soll mit spektakulären Bewegungen und hohen Noten begeistert werden. Das Fachpublikum dagegen wendet sich zunehmend und entgeistert ab, weil das Gezeigte wider der Natur des Pferdes ist. Ein aus dem Rücken heraus gehendes Pferd scheint für den Turniersport uninteressant, die Bewegungen sehen zu leicht – im Sinne von „normal“ – aus.

Der Preis steht im Vordergrund

Das Turnierpferd ist zum Prestigeobjekt und Verkaufsprodukt verkommen. In der Öffentlichkeit wird vor allem darüber gesprochen, was das Pferd gekostet hat. Hohe Preise versetzen alle in Staunen und begründen für viele die Basis des Erfolgs. Der Handel bestimmt, in welchem Alter ein Pferd genau diese oder jene Leistung zu liefern hat. So entstanden Alterskategorien für Jungpferdeprüfungen – ein Verkaufsschema, bei dem Pferde, die nicht hineinpassen, abqualifiziert werden. Ganz gleich, ob dieses Pferd sich später noch entwickeln könnte. Viele Richterurteile sind leider daraufhin schematisch angepasst. Die Pferde sind für die in der Prüfung abverlangte Leistung im Durchschnitt zu jung. Viele Beteiligte wissen, dass dieses Vorgehen bei den Pferden in der Folge Schäden hervorruft. Rücksichtslos wird dennoch je nach Bedarf die klassische Lehre verbogen, sogar neu „erfunden“, damit dieses Vorgehen mit guten Argumenten gerechtfertigt werden kann.
Doch diese Missstände werden zunehmend wahrgenommen. Und so ist das öffentliche Interesse an Fairness, im Sinne eines natürlichen Umgangs mit dem Pferd, immer größer geworden. Es gehört eben nicht dazu, dass das Spektakel über den Grundsatz gestellt wird, die Pferde durch die systematische Arbeit ruhig, gewandt und gehorsam zu machen. Ein klassischer Reiter, der seine Förderung an der Natur und den Anlagen seines Pferdes ausrichtet, wird sich immer die Zeit nehmen und den Ausbildungsweg einschlagen, welcher seinem Pferd am nächsten kommt und die gemeinsame Leistung allein daran orientieren. Eine Leistung, die bis in die höchsten Klassen sehr wohl messbar, sportlich und wettkampftauglich wäre – das bleibt eben eine Frage der Kriterien.

Leseempfehlung

Mit dem Pferd in Harmonie und Balance – davon träumt jeder Reiter. Geistiges und körperliches Gleichgewicht sind die Grundvoraussetzungen für eine Partnerschaft zwischen Reiter und Pferd – miteinander statt gegeneinander. Warum sieht man dann aber so viele unschöne Bilder auf den hiesigen Reit- und Turnierplätzen? Christoph Ackermann von Condé Reitseminare ist selbst aktiver Turnierreiter und befasst sich in seinem neuen Buch „Auf der Suche nach dem Gleichgewicht“ mit eben diesen unschönen Anblicken. Eine Lektüre, die Pferdemenschen zum Nachdenken anregt und einen Weg zeigt, wie mit Geduld, Liebe und Leidenschaft der Weg in die hohen Dressurklassen auch pro Pferd geebnet werden kann. Der Spitzensport auf Basis der klassischen Reitkunst nach Egon von Neindorff sozusagen.