Angst: Tabu oder Hilfe?

1. September, 2021 | Ausgabe II/2021, Der Mensch., Der Mensch. [II/2021]

Angst ist in der Reiterwelt ein Tabuwort. Aber warum eigentlich? Angst ist eine evolutionär bedingte Emotion, die durchaus ein guter Berater sein kann. Wir schauen uns „Angst“ in diesem Artikel einmal genauer an.

Autorin: Hanna Barnstorf-Brandes

Angst im Umgang mit dem Pferd kann leicht entstehen. Sei es durch einen schlimmen Sturz, einen unschönen Vorfall beim Führen oder auch ohne einen konkreten Vorfall. Ein Gefühl, das beherrschend wird, wenn man sich ihm nicht rational stellt.
Foto: Adobe Stock

„Verantwortlich für die körperliche
Angstreaktion ist das vegetative Nervensystem.
Es steuert Prozesse, die unbewusst ablaufen
und nur schwer vom Menschen steuerbar sind.“

Was ist „Angst“?

Biologisch gesehen ist Angst ein wichtiger Teil unseres Verhaltens, ein Urgefühl, das unmittelbar mit entsprechenden hormonellen Reaktionen im Körper gekoppelt ist. Unser Körper unterscheidet nicht zwischen rationaler und irrationaler Angst. Unser Gehirn dagegen schon: Kognitiv sind wir durchaus in der Lage, eine irrationale Angst als solche zu erkennen.
Angst kann Schutz vor unüberwindbaren Herausforderungen bieten, unseren Körper und unsere Psyche vor Verletzungen oder schädlichen Einflüssen schützen. Sie kann ausgelöst werden durch schon erlebte Erfahrungen, durch Erzählungen und „Vorahnungen“, aber eben auch spontan ohne erkennbaren Auslöser auftreten. In jedem Fall ist Angst immer ein Schutzmechanismus für uns.

Wie merke ich, dass ich Angst habe?

Während die Auslöser der Angst so individuell sind, wie die Menschen selbst, sind die körperlichen Reaktionen bei allen Menschen gleich: Der Gedanke an das angstbesetzte Ereignis oder die konkrete Angst-Situation lösen erhöhten Puls und schnellere Atmung aus. Das Herz rast, der Magen meldet sich mit lautem Grummeln, die Hände werden schweißnass, die Knie fangen an zu zittern.

Die Psychophysiologie der Angst

Verantwortlich für die körperliche Angstreaktion ist das vegetative Nervensystem. Es steuert Prozesse, die unbewusst ablaufen und nur schwer vom Menschen steuerbar sind. Von der Nebenniere wird vermehrt Adrenalin und Noradrenalin produziert. Dieser Hormoncocktail signalisiert dem Sympathikus Stress und aktiviert das Notfallsystem des Körpers: Herzfrequenz und Blutdruck steigen, so dass die Muskeln stärker durchblutet werden, das Gehirn jedoch quasi ausgeschaltet wird. Der Sympathikus ist ein entscheidender Teil des vegetativen Nervensystems. Er sorgt dafür, dass der Körper im Notfall funktioniert. Salopp lässt sich sagen: Er ist für all die Situationen zuständig, in denen wir einfach funktionieren – ohne benennen zu können, wie wir das eigentlich gemacht haben. Als Gegenspieler des Sympathikus hilft der Parasympathikus Stresssituationen – also auch Angst – zu reduzieren. Auch der Parasympathikus wird hormonell gesteuert. Er verlangsamt in der Folge den Herzschlag und entspannt die Muskulatur.

Wie entstehen „Angstreiter“?

Das Pferd als hochsoziales Wesen unterliegt seinem Fluchtinstinkt. Dieser steuert die Reaktionen des Pferdes maßgeblich. Sie haben daher selten etwas mit berechnender Bösartigkeit zu tun. Als Herdentier orientiert sich das Pferd an seinen Leittieren. Im besten Fall also an uns. Signalisieren wir unserem Pferd also über unseren Herzschlag, Atem und unsere Muskelspannung Angst, schalten auch sie instinktiv auf Flucht um. Angst beim Pferd kann sich auf verschiedene Arten bemerkbar machen: Die einen flüchten, die anderen erstarren zu Statuen, die sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Aufgrund des erheblichen Kräfteunterschieds ist beides eine eher schlechte Position für uns. Daher müssen wir unseren Alltag mit dem Pferd immer genau reflektieren und dementsprechend unsere Angstsituationen entlarven. Blicken wir unserer Angst ins Auge, steuern wir sie. Machen wir uns unsere Angst bewusst, sind viele Situationen schon gar nicht mehr so fürchterlich wie gefühlt.
Angstreiter bzw. Angst im Umgang mit dem Pferd können in den banalsten Alltagssituationen entstehen. Und zwar bei jedem Pferd-Mensch-Team. Beim letzten Ausritt ist das Pferd an einer völlig unerwarteten Stelle durchgegangen, auf dem Weg zur Wiese hat es sich plötzlich stark gemacht und losgerissen, beim Longieren ist das Pferd aus unerkennbaren Gründen völlig kopflos geworden. Es hat Minuten gedauert, wieder Ruhe in die Situation zu bringen. All diese Vorfälle malen Bilder in unseren Kopf, gekoppelt mit einer Stressreaktion des Körpers: erhöhter Puls, das Herz klopft schneller, wir atmen schneller und krampfen uns mit der Hand am Strick oder Zügel fest. Körperlich betrachtet haben wir also Angst! Sie zu leugnen bringt uns nicht weiter. Unsere Chance, sie zu minimieren, liegt darin, bewusst den Parasympathikus zu aktivieren. Denn unser mentaler Umgang mit Angst hilft uns, zukünftig gelassen und lösungsorientiert mit Angstsituationen umzugehen.

Ein Coach kann aus der Angstspirale helfen: Hanna Barnstorf-Brandes unterstützt ihre Schüler auf dem Weg zurück zum Vertrauensverhältnis.
Foto: Urte Ginter

Das passiert, wenn wir Angst leugnen

Wir erhalten unsere Angst aufrecht, wenn wir sie fortwährend leugnen. Die Psychologie nennt es: Vermeidungsverhalten. Aus Angst davor, dass sich Situationen wiederholen können, vermeiden wir sie und aktivieren damit unbewusst unsere Angstspirale. Daher raten so viele Reiter dazu, nach einem Sturz vom Pferd sofort wieder aufzusteigen, um die Angstspirale gar nicht erst zu aktivieren.
Strategien gegen die Angst

-Psychoedukation: Sich Angst bewusst machen
Die Erklärung der Prozesse des vegetativen Nervensystems verdeutlichen den Betroffenen, dass die körperlichen Reaktionen bei Angst normal sind. Gerade die parasympathische Aktivität kann durch gezielte Übungen – wie autogenes Training, Meditation, Entspannungsübungen – gestärkt werden. Betroffene erhalten auf diese Weise ein Stück Kontrolle über ihren Sympathikus zurück.

-Kognitive Umstrukturierung: Positive Gedanken entwickeln
Negative Gedanken zu identifizieren ist wichtig. Sie lassen Angst entstehen oder erhalten sie aufrecht, je nachdem. Durch die sogenannte Kognitive Umstrukturierung können negative Gedanken durch neue Gedanken und Glaubenssätze ersetzt werden. Visualisierung oder (pferdegestützte) Coachingmethoden können dabei sehr hilfreich sein.

-Konfrontation: Angst überwinden
Wir wissen nun: Angst wird über Reaktionen im Körper erzeugt und welche Gedanken, Situationen oder Orte diese Reaktionen auslösen. Jetzt haben wir die Chance, die Angst zu überwinden, indem wir die Konfrontation mit dem Angstfaktor suchen. Auch dazu können wir uns Hilfe von einem Trainer oder Coach holen. Sie sind nicht nur eine mentale Stütze, sondern helfen uns so effektiv bei der Konfrontation, dass Rückschläge seltener entstehen.
In der Konfrontation ist es wichtig, solange in der Situa­tion zu bleiben, bis die Angst abebbt. Nur dann haben wir eine reale Chance die Angst zu überwinden und von diesem Zeitpunkt an negative Erfahrungen mit positiven zu überschreiben. Würden wir hingegen mit einem starken Angstgefühl aus der Situation gehen, entfliehen wir der Angst. Wir überwinden sie nicht, sondern erhalten sie aufrecht und verstärken sie sogar.
Häufig hilft bereits, die Angststelle oder Angstsituation einmal ohne Pferd zu durchschreiten. Wenn das Pferd zum Beispiel an einer bestimmten Stelle des Stalls, des Platzes oder des Hofes immer wieder Reaktionen zeigt, die uns schneller atmen lassen, kann es hilfreich sein, die Stelle mal ohne Pferd zu passieren. Und? Existiert dort ein Angstgrund? Vermutlich nicht. Das Pferd hat Angst vor dem Regenschirm. Auf einmal ist der Regenschirm ein Angstgegenstand und wir schließen ihn mit stockendem Atem oder machen einen großen Bogen um ihn? Im Leben ohne Pferd doch vermutlich auch nicht. Je gelassener wir mit der vermeintlichen Angstsituation umzugehen lernen, desto gelassener wird die Situation mit dem Pferd.

-Umgang mit Rückschlägen
Der Weg aus der Angst verläuft selten gradlinig. Vielmehr ist dieser Weg ein Prozess. Und auf diesem Weg können auch Rückschläge passieren und die Angst ist wieder da. Daher gilt: Durchhalten, durchatmen und weitermachen – auch wenn das bedeutet, einen Schritt rückwärtszugehen, um dann wieder nach vorne gehen zu können.

Vertrauen ist die Basis einer guten Pferd-Mensch-Beziehung. Ist es gestört, entsteht Angst. Mit Hilfe verschiedener Strategien lässt sie sich wieder in Vertrauen umwandeln.
Foto: Scarlett Bilski

Angst haben ist kein Armutszeugnis

Angst im Beisein des Pferdes ist noch längst nicht das Ende der Beziehung zum Pferd. Sie ist auch kein pauschales Tabu, sondern kann eine wertvolle Hilfe sein. Sich die eigene Angst bewusst einzugestehen, ist eine Chance, um sie zu überwinden, und die Beziehung zum Pferd noch intensiver werden zu lassen. Ein Trainer oder Coach kann dabei eine gute Stütze sein und uns zu Leichtigkeit und Freude im Umgang mit dem Pferd verhelfen. Es ist unser Umgang mit der eigenen Angst, der uns zu einem guten oder schlechten Pferdemenschen macht.
Können wir unsere Angst nicht überwinden und müssen uns daher von unserem Pferd trennen, ist auch das kein Armutszeugnis. Es ist vielmehr ein starkes Bewusstsein für sich selbst, das Tier und die Umwelt. So haben alle Beteiligten die Möglichkeit einen neuen Weg ohne Angst zu gehen.